Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
brauchen den Ablativ.«
Man hörte ratloses Papiergeraschel.
»Moment«, sagte Charles. Seine Stimme hatte große Ähnlichkeit mit der seiner Schwester; sie war heiser und hatte eine leichte Südstaatenfärbung. »Schaut mal, hier. Sie segeln nicht einfach nach Karthago, sondern sie segeln, um es anzugreifen.«
»Du bist verrückt.«
»Nein, es stimmt. Guck dir den nächsten Satz an. Wir brauchen den Dativ.«
»Bist du sicher?«
Neuerliches Papiergeraschel.
»Absolut. Epi tö karchidona .«
»Sehe ich nicht ein«, sagte Bunny. »Ablativ heißt die Parole. Bei den schwierigen ist’s immer der Ablativ.«
Eine kurze Pause. »Bunny«, sagte Charles. »Du verwechselst da was. Der Ablativ ist lateinisch.«
»Ja, natürlich, das weiß ich auch«, sagte Bunny gereizt nach einer verwirrten Pause, die auf das Gegenteil hinzuweisen schien, »aber du weißt doch, was ich meine. Aorist, Ablativ, ist doch alles das gleiche im Grunde ...«
»Hör mal, Charles«, sagte Camilla. »Dieser Dativ geht nicht.«
»Doch, er geht. Sie segeln zum Angriff, nicht wahr?«
»Ja, aber die Griechen segeln über das Meer nach Karthago.«
»Aber ich habe das epi davorgesetzt.«
»Na, wir können angreifen und immer noch epi benutzen, aber wir brauchen den Akkusativ wegen der Grundregeln.«
Segragation. Selbst. Selbstvorstellung. Ich starrte auf das Register und zermarterte mir das Hirn nach dem Kasus, den sie suchten. Die Griechen segelten über das Meer nach Karthago. Wohin. Woher. Karthago.
Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich klappte das Buch zu, schob es ins Regal und drehte mich um.
»Entschuldigung«, sagte ich. Sofort hörten sie auf zu reden und drehten sich erstaunt nach mir um.
»Tut mir leid – aber würde der Lokativ gehen?«
Eine ganze Weile sagte niemand etwas.
»Lokativ?« wiederholte Charles dann.
»Man muß nur ze an karchido anhängen«, sagte ich. »Ich glaube, es ist ze. Wenn ihr das benutzt, braucht ihr keine Präposition, abgesehen von dem epi, wenn sie in den Krieg ziehen. Es bedeutet ›karthagowärts‹; damit braucht ihr euch auch nicht mehr um den Kasus zu kümmern.«
Charles blickte auf sein Papier und dann mich an. »Lokativ?« sagte er. »Ziemlich obskur.«
»Bist du sicher, den gibt es für Karthago?« fragte Camilla.
Daran hatte ich nicht gedacht. »Vielleicht nicht«, sagte ich. »Ich weiß, daß es ihn für Athen gibt.«
Charles beugte sich vor, zog das Lexikon über den Tisch zu sich heran und fing an, darin zu blättern.
»Ach, verflucht, spar dir die Mühe«, sagte Bunny durchdringend. »Wenn man es nicht deklinieren muß und wenn keine Präposition nötig ist, finde ich es schon prima.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute zu mir auf. »Ich würde dir gern die Hand schütteln, Fremder.« Ich reichte sie ihm; er ergriff sie und schüttelte sie kräftig, und dabei stieß er mit dem Ellbogen fast ein Tintenfaß um. »Erfreut, dich kennenzulernen, ja, ja«, sagte er und hob die andere Hand, um sich das Haar aus den Augen zu streichen.
Ich war verwirrt von dieser plötzlich auflodernden Aufmerksamkeit; es war, als hätten die Figuren auf einem Lieblingsgemälde, sonst immer versunken in ihre eigenen Belange, von der Leinwand
aufgeblickt und mich angesprochen. Erst einen Tag zuvor war Francis, ein Nebelstreif von schwarzem Kaschmir und Zigarettenrauch, in einem Korridor an mir vorbeigestrichen. Einen Augenblick lang, als sein Arm den meinen berührte, war er ein Geschöpf aus Fleisch und Blut gewesen, aber im nächsten Moment hatte er sich wieder in eine Halluzination verwandelt, ein Fragment meiner Phantasie, das den Gang hinunterschritt, ohne mich zu beachten, wie Geister auf ihren schattenhaften Runden die Lebenden angeblich nicht beachten.
Charles, noch immer mit dem Lexikon beschäftigt, erhob sich und streckte mir die Hand entgegen. »Mein Name ist Charles Macaulay.«
»Richard Papen.«
»Ach, du bist das«, sagte Camilla plötzlich.
»Was?«
»Du. Du bist vorbeigekommen und hast nach dem Griechischkurs gefragt.«
»Das ist meine Schwester«, sagte Charles, »und das ist – Bun, hast du dich schon vorgestellt?«
»Nein, nein, glaube nicht. Ihr habt einen glücklichen Mann aus mir gemacht, Sir. Wir hatten noch zehn solche Dinger zu machen und fünf Minuten Zeit dafür. Edmund Corcoran ist mein Name.« Wieder ergriff er meine Hand.
»Wie lange hast du Griechisch gelernt?« fragte Camilla.
»Zwei Jahre.«
»Du bist ziemlich gut darin.«
»Schade, daß du
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