Die geheime Reise
kristallenen Augen ihr zärtlich.
Als Wanja den Wohnwagen verließ, drehte sie sich noch einmal zu dem Alten um. »Übrigens, meinem Vater geht es gut.«
Wieder lachte Amon und das meckernde, blecherne Geräusch passte so gar nicht zu seiner leisen, sanften Stimme. »Ich weiß.«
In Taros Wohnwagen fehlten nur die Trommeln. Sonst war alles wie beim ersten Mal, und als Wanja in der Tür stand, musste sie wieder an Mischas Trommelschläge denken. Drei laute, dumpfe Schläge voll von Wut und Hass. Fast ein Jahr war es her. Oder ein paar Tage.
Die Trommeln, die aus dem Zirkuszelt ertönten, waren rhythmisch und schnell, Noaeh sang dazu und aus der Manege kamen Wanja Thrym und Thyra entgegen, den Applaus der Zuschauer im Rücken. Die Pause war bereits vorbei. Thrym, der die Stangen auf dem Arm balancierte, glühte vor Stolz und Thyra hatte ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht. Fangen mit Stangen. Die Nummer war anscheinend geglückt und plötzlich bedauerte Wanja, sie nie gesehen zu haben.
»Fertig zum Aufwärmen?« Taro kam auf Wanja zu und gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. Die Matten lagen schon bereit, und als sie mit den Dehnübungen begannen, konnte Wanja den Blick nur mit Mühe von Taro abwenden. Er hatte den blauen Mantel abgelegt und stattdessen das rote Trikot angezogen.
»Tiefer« – »Nicht so schnell« – »Vergiss das Atmen nicht.« Das war alles, was er sagte, und plötzlich wusste Wanja, was sie an Taro am meisten faszinierte. Was er auch tat, er tat es ganz. Nie war er abwesend, zerstreut oder mit seinen Gedanken woanders und damit unterschied er sich von fast allen Menschen, die Wanja kannte, eingeschlossen sie selbst.
Nach einer Weile ging Perun in seinem Drachenkostüm an ihnen vorbei. In den Händen hielt er die Zielscheibe und den Pfeil und in der Manege kündigten die Trommeln seine Nummer an. Als das Publikum applaudierte und Wanja den warmen Feuerschein im Rücken fühlte, dachte sie an den Vogel, dem der Pfeil nichts hatte anhaben können und den sie doch besiegt hatten, mit ihren eigenen Waffen, ohne ihn zu töten. Taro hatte nicht einmal gefragt, was der Vogel von ihm wollte, er schien nur froh zu sein, dass er weg war. Bald würde auch Taro weg sein. Dafür würde Wanja ihren Vater kennen lernen und jetzt, wo sie die ganze Geschichte kannte, mischte sich in ihre Sehnsucht auch das Wissen darum, dass Jolan ihre Mutter betrogen und sich dreizehn Jahre nicht bei ihnen gemeldet hatte, nicht einmal, um nachzufragen, wie es seiner Tochter ging. Dieses Wissen tat weh, aber es machte ihr keine Angst.
»Hey.« Taros Stimme riss Wanja aus ihren Gedanken. Er saß ihr genau gegenüber, seine Beine waren ausgestreckt, sodass seine und Wanjas Fußsohlen sich berührten. Jetzt griff er nach Wanjas Händen und Wanjas Muskeln zogen sich schmerzhaft in die Länge, als Taro ihre Fesseln umschloss und zu ziehen begann. Sein Oberkörper ging nach hinten, Wanjas nach vorn.
»Lass die Beine gestreckt.«
»AU!«
»Atme.«
»Ich …«
»Lass die Beine gestreckt und atme.«
Dann ging es umgekehrt, Taros Oberkörper beugte
sich vor und Wanja lehnte sich zurück. Mit jedem Mal wurde es leichter, angenehmer. Einmal, als sie beide in der Mitte waren, hielt Wanja inne. »Taro?«
»Ja?«
»In der Ruine. Hattest du Angst?«
»Ja.« Taro nickte. »Aber noch mehr Angst hatte ich in
der Manege.«
»Davor, dass dich der Vogel umbringt?«
»Nein. Davor, dass er dich umbringt.«
Wanja schluckte. Dann zog sie wieder an Taros Händen, doch diesmal hielt Taro sie zurück. »Bleib, wie du bist, hörst du? Bleib immer genau so, wie du bist.«
Als Taro und Wanja mit den Übungen fertig waren, als sich Wanjas Körper warm und bereit anfühlte, zog auch sie ihr Trikot an und Taro legte ihr den roten Federumhang über die Schultern. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie zum Vorhang. In der Manege stand Reimundo, und als Wanja den Vorhang einen Spalt zur Seite schob, sah sie die Schafe an ihren unsichtbaren Fäden in die Höhe steigen.
Der Alp und der Traum, kaum sind sie, kaum
zu unterscheiden,
die beiden,
bis sie sich binden
und bleibend verschwinden als keins oder eins,
aber immer als deins.
Alles wird gut,
auch die Angst und die Wut werden leise auf der Reise, die nicht endet,
bis es sich wendet.
Alles wird gut.
Reimundos Lächeln sah Wanja nicht, nur die schillernden Tropfen, die von der Decke fielen, und dann trat sie mit Taro in die Stille der Manege. Hinter ihnen kam Gata. Ihr Fuß schien ihr keine
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