Die Geheimnisse der Toten
will Zeuge des alten Rituals sein, mit dem die Römer alle ihre Herrscher verabschiedet haben. Später, wenn die Asche kalt geworden und das Militär abgezogen ist, werden sie im Beisein der heiligen Apostel ihr eigenes, christliches Ritual zelebrieren. Falls sich bis dahin nicht Entscheidendes verändert hat.
Sechs Gardisten heben den Leichnam von der Bahre und tragen ihn über Stufen hinauf zum ersten Zwischenboden des hölzernen Turms. Ich kann aus der Distanz nicht erkennen, ob es die Wachspuppe oder tatsächlich Konstantins Leichnam ist. Eine Gestalt in goldener Robe besteigt das Podest. Ich sehe sie nur von hinten, glaube aber an der perlenbesetzten Krone auf dem Kopf Constantius zu erkennen.
Rufe werden laut – nicht aus der Menge, sondern vom Kuppeldach hinter uns. Eine verborgene Tür hat sich geöffnet. Palastwachen stürmen mit schwingenden Schwertern herbei. Porfyrius’ Männer versuchen, sie zurückzuschlagen.
Für Konstantin beginnt die letzte Schlacht.
Rom – Gegenwart
Dragović starrte in den offenen Sarg. Wie eine Lanze stieß der Strahl seiner Stirnlampe ins Innere. Abby stand abseits in einer Ecke und konnte ihm nicht ins Gesicht sehen. Sie bemerkte nur, dass er in sich zusammensackte, die Hände um den Rand des Sarkophags krallte und wie ein Betrunkener den Kopf hin und her torkeln ließ.
Dann drehte er sich um. Sein Gesicht war aschfahl.
«Nichts drin.»
Seine Männer schauten hinein. Auch Michael trat vor, beugte sich über den Rand und tastete mit der Hand über den Grund. Als er sie zusammengeballt wieder hervorzog und öffnete, war nichts als Staub darin. Er rieselte ihm von den Fingern.
«Für nichts und wieder nichts», murmelte er. «Kein labarum . Nicht einmal Knochen.»
Dragović fuhr mit der Hand über den Rand, der, wie auch Abby jetzt bemerkte, voller Kerben und Kratzspuren war.
«Uns ist jemand zuvorgekommen.» Als er sich plötzlich zu Michael umdrehte, hatte er seine silberne Pistole in der Hand und zielte auf dessen Brust. «Hast du vielleicht geglaubt, du könntest Zoltán Dragović austricksen?»
Michael wich zurück. An der Wand hinter ihm verschwand Jonas im Maul eines riesigen blauen Wals.
«Was soll der Unsinn? Der Raum hier war jahrhundertelang zugemauert.»
«Stimmt», schaltete sich Abby ein. «Dr. Lusetti, der Archäologe, der uns hierhergebracht hat, sagte, die Ziegel seien römisch. Wenn Grabräuber vor uns hier waren, waren es römische Grabräuber.»
Michael machte eine Handbewegung, die seine Unschuld beteuern sollte. Dragović blickte auf seine Waffe. Aus einem der Rucksäcke, die neben dem Sarkophag auf dem Boden lagen, drang ein elektrisches Summen. Einer der Männer holte ein kleines Gerät daraus hervor, das über einen Draht mit einer im Rucksack versteckten Antenne verbunden war. Er las, was auf dem Display stand, und fluchte.
Auf Serbisch erklärte er: «Darko meldet, dass uns Carabinieri auf den Fersen sind.»
Dragović nickte. Die Nachricht beunruhigte ihn offenbar nicht, sie schien ihn vielmehr zu beleben.
«Bringt die Sprengstoffladungen an», befahl er.
«Was ist mit dem Sarg?»
«Kümmere dich nicht darum. Er ist leer.»
Weitere Plastikschläuche kamen zum Vorschein. Die Männer schlugen Nägel in die Kammerdecke und befestigten den Sprengstoff. Dragović wandte sich an Michael.
«Weißt du, was das Gute an diesen Katakomben ist?»
«Was?»
«Hier unten ist es denkbar einfach, eine Leiche verschwinden zu lassen.»
Abby erkannte, was er vorhatte, und stürzte auf Dragović zu. Doch der hatte schon den Finger am Abzug. Der Schuss löste sich und riss ein Loch in Michaels Brust. Er taumelte rücklings gegen die Wand.
Abby schrie. Sie fiel über Dragović her, wurde aber sofort von zwei Armen zurückgehalten, die sich ihr um die Taille legten und sie in die Höhe hoben. Dragović fuhr herum. Grinsend hob er die Pistole und setzte ihr die brennend heiße Mündung auf die Stirn. Abby wehrte sich vergeblich.
Michael rutschte an der Wand entlang zu Boden und rührte sich nicht mehr.
«Wollen Sie mich jetzt auch noch töten?» Sie konnte ihre Stimme selbst kaum hören, so laut hallte der Schuss in ihren Ohren nach. Dragović erging es wahrscheinlich nicht anders, er schien sie aber zu verstehen. Er spannte den Hahn. Seine Augen glühten voller Erwartung.
Einer seiner Männer tippte auf seine Armbanduhr und erinnerte an die Carabinieri. Dragović nickte und senkte die Waffe.
«Später. Fürs Erste können wir eine Geisel
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