Die Geheimnisse der Toten
nur niedergeschlagen aus.
«Wenn du deinen Feind nicht besiegen kannst, dann mach ihn dir zum Freund …»
Dragović hatte sein Interesse an den beiden verloren. Er forderte seine Männer auf, den Sarkophag zu öffnen. Sie holten kurze Stemmeisen aus einem Rucksack, rammten sie an den vier Ecken unter den Deckel und versuchten, ihn aufzuhebeln.
«Wie hat man bloß das Ding hier runterschaffen können?», fragte Michael wieder. Er hatte Abby den Rücken zugekehrt.
Dragović deutete auf einen Spalt in der Ecke des Sarkophags. «Man hat die Einzelteile hier unten zusammengefügt und mit Zement verklebt. Ein Bausatz wie die Sachen von IKEA.»
Seine Männer lachten. Sie waren stämmige Kerle, gebaut wie Gewichtheber, hatten aber sichtlich Mühe, den Marmordeckel zu öffnen.
«Wie wär’s mit ’nem Stück Sprengschnur?», fragte einer.
«Nein.» Dragović sah ihnen aufmerksam zu. Er stand unter Hochdruck. Abby spielte mit dem Gedanken, heimlich das Weite zu suchen. Aber sie wagte es nicht.
«Wir werden nicht riskieren, das labarum zu beschädigen.»
Seine Männer legten sich wieder ins Zeug. Die Stemmeisen bogen sich, doch noch hielt der Stein stand. Abby spürte die Spannung in der Luft, ein Zerren und allmähliches Nachgeben.
Plötzlich krachte es. Zuerst löste sich eine Ecke, dann die andere. Der Deckel öffnete sich und rutschte zur Seite. Dragović trat hinzu und blickte in den offenen Sarg.
Konstantinopel – Juni 337
Die Sonne strahlt blendend weiß durch das offene Tor. Porfyrius wendet sich mir zu.
«Es wird Zeit. Bist du für oder gegen uns?»
Ich bin allein , liegt mir auf der Zunge zu sagen.
«Wir können dich fesseln und hier zurücklassen, bis alles vorüber ist. Oder willst du dich uns anschließen?»
Mir bleibt keine Wahl. Ich muss wissen, wie dieses Schauspiel endet. «Ich komme mit.»
Ich folge ihnen nach draußen. Es sind an die zwanzig Männer, wie ich jetzt sehe, fast alle mit geschorenen Köpfen und mit soldatisch straffen Schultern. Sie tragen die weiße Schola-Uniform, obwohl das nichts zu bedeuten hat. Der Mann – ich bringe es einfach nicht fertig, ihn Crispus zu nennen – ist in der vorderen Reihe. Ich sehe nur seinen Rücken und die lockigen Haare, die fast bis zum Kragen reichen. Sie sind länger als damals vor elf Jahren, aber immer noch pechschwarz. Die linke Schulter hängt ein wenig, wenn er sich bewegt. Ob er sich daran erinnert, was ich ihm am Strand gesagt habe? Wäre ich nur eine Weile allein mit ihm, erführe ich’s wohl.
Ich höre das Raunen der Menge, die sich vor dem Mausoleum versammelt hat. Für sie sind wir nicht zu sehen, als wir das Gerüst auf der Rückseite besteigen, Leiter um Leiter. Niemand hält uns auf.
Am unteren Rand der Kupferkuppel verläuft ein Steg mit steinerner Balustrade rund um die Rotunde. Zwischen kleinen Säulen ist ein Metallgeflecht gespannt, von außen vergoldet, aber wir sehen nur das rohe Eisen.
Wir kauern uns hinter die Balustrade und warten. Ich spähe durch das Gitterwerk und sehe, wie die Menge zur Ruhe kommt. Die Senatoren und Generäle haben auf ihrer Tribüne Platz genommen. Die Legionen formieren sich zu purpurnen Quadraten. Dahinter reckt die Menge ihre Hälse.
Wie viele von ihnen werden am Abend noch leben, wenn Porfyrius seinen Willen durchsetzt? Er sagt, er will das Reich einen, aber Konstantin hat zwanzig Jahre darum gerungen, und nicht jeder wird an das von Porfyrius dargebotene Wunder glauben.
Ich suche nach Crispus, doch er wird von seinen Männern abgeschirmt und ist nicht zu sehen.
Der Katafalk mit der Bahre des toten Kaisers rollt langsam von der Stadt herbei. Ich wende mich an Porfyrius, der neben mir kauert.
«Hat Alexander es entdeckt? Dein Geheimnis? Musste er deshalb sterben?»
Porfyrius wischt sich den Schweiß von der Stirn. «Leider. Crispus kam wegen verschiedener Dokumente zu mir in die Bibliothek. Alexander sah und erkannte ihn. Crispus geriet in Panik, griff nach dem erstbesten Gegenstand und schlug zu. Er ist stark. Der eine Hieb reichte.»
«Er selbst schlug seinen alten Lehrer tot?» Ich schüttele den Kopf. «Der Crispus, den ich kannte, hätte so etwas nie getan.»
«Der Tod verändert einen Mann. Und die Krisenzeit tut ein Übriges.»
Porfyrius wendet sich ab. Der Trauerzug hat das Mausoleum erreicht. Hunderte Arme recken sich über die Absperrungen in Richtung Bahre. Eusebius und all die anderen Priester, die ihr vom Palast bis hierher gefolgt sind, verziehen sich plötzlich. Keiner
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