Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Der schwarze Hexenmeister - Scott, M: Geheimnisse des Nicholas Flamel - Der schwarze Hex - The Secret of the Immortal Nicholas Flamel # 5 - The Warlock
»Das kann keiner sagen. Diese Kreaturen denken nicht wie Menschen. Tsagaglalal und andere, die seit Tausenden von Jahren auf dieser Erde sind, haben Aufstieg und Fall ganzer Zivilisationen erlebt. Weshalb sollte das Leben einzelner Menschen sie interessieren? Wir, die Humani, bedeuten ihnen nichts.«
Schweigend gingen sie weiter die Scott Street hinunter. Sophie atmete noch einmal tief durch die Nase ein. Der Jasminduft schien noch intensiver geworden zu sein.
»Unsterblichkeit verändert das Denken der Wesen«, stellte Niten unvermittelt fest, und erst da fiel Sophie auf, dass er ganz selten von sich aus eine Unterhaltung begann. »Sie denken nicht nur anders von sich, sondern auch von der Welt um sie herum. Ich weiß, wie es ist, wenn man Hunderte von Jahren lebt. Ich konnte die Auswirkungen an mir selbst beobachten … Und ich frage mich immer wieder, wie es sich auf diejenigen auswirkt, die tausend, zweitausend oder zehntausend Jahre leben.«
»Mein Bruder und ich haben König Gilgamesch in London kennengelernt. Nicholas Flamel sagte, er sei der älteste Humani auf diesem Planeten.« Bei dem bloßen Gedanken an den König überspülte sie eine Flut von Gefühlen. Noch nie hatte sie mehr Mitleid für jemanden empfunden als für ihn.
Niten blickte das Mädchen von der Seite her an und sein Gesicht zeigte ausnahmsweise eine kleine Regung. »Du bist dem Zeitenältesten begegnet? Das ist eine seltene Ehre. Wir haben einmal Seite an Seite gekämpft. Er war ein außergewöhnlicher Krieger.«
»Er war verwirrt und einsam«, sagte Sophie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Ja, das auch.«
»Du bist unsterblich, Niten. Bereust du es?«
Niten wandte den Blick ab, das Gesicht wieder völlig ausdruckslos.
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Sophie rasch, »ich wollte nicht neugierig sein.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich habe über deine Frage nachgedacht. Jeden Tag meines Lebens denke ich darüber nach«, bekannte er mit einem kleinen, traurigen Lächeln. »Ich gebe zu, dass ich das, was ich durch die Unsterblichkeit verloren habe, gerne wiederhätte: die Gelegenheit, eine Familie zu gründen, Freunde zu haben oder auch eine Heimat. Sie hat mich zu einem Einzelgänger gemacht, einem Ausgestoßenen, einem rastlosen Wanderer – wobei ich, um die Wahrheit zu sagen, dies alles auch schon war, bevor ich unsterblich wurde. Aber eben diese Langlebigkeit hat mir auch Wunder offenbart«, fuhr er fort, und es war das erste Mal, dass Sophie sah, wie der Schwertkämpfer lebhaft wurde. »Ich habe fantastische Dinge gesehen und so vieles erduldet. Die Lebenszeit der Humani reicht nicht aus, um auch nur einen Bruchteil dessen zu erleben, was allein diese Welt zu bieten hat. Ich habe jeden Winkel sämtlicher Kontinente auf diesem Planeten gesehen und Schattenreiche erkundet, die beides waren: schrecklich und unbeschreiblich schön. Und ich habe so vieles gelernt. Unsterblichkeit ist ein Geschenk, das jede Vorstellung übersteigt. Wenn man es dir anbietet, nimm es. Die Vorzüge übersteigen die Nachteile bei Weitem.« Er hielt abrupt inne. Es war wahrscheinlich die längste Rede, die Sophie je von ihm gehört hatte.
»Scathach hat gemeint, Unsterblichkeit sei ein Fluch.«
»Unsterblichkeit ist das, was du daraus machst«, erwiderte Niten. »Fluch oder Segen – ja, es kann beides sein. Doch wenn du tapfer und neugierig bist, gibt es kein größeres Geschenk.«
»Ich werde es mir merken für den Fall, dass sie mir jemand anbietet.«
»Und natürlich hängt alles davon ab, wer dir das Angebot macht!«
Sophie atmete tief durch, als das weiße, holzverkleidete Haus ihrer Tante an der Ecke auftauchte. Was sollte sie Tante Agnes sagen? Zuerst war sie verschwunden gewesen. Jetzt war sie wieder da, aber dafür war ihr Bruder weg. Agnes mochte zwar alt sein, aber dumm war sie nicht. Sie wusste, dass die Zwillinge unzertrennlich waren. Dass man den einen ohne den anderen sah, kam so gut wie nie vor. Sophie wusste, dass sie vorsichtig sein musste. Alles, was sie Tante Agnes erzählte, würde sofort bei ihren Eltern ankommen. Und wie sollte sie zu erklären versuchen, was mit Josh geschehen war? Sie wusste ja nicht einmal, wo er war. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war er nicht der Bruder gewesen, mit dem sie aufgewachsen war. Er hatte ausgesehen wie Josh, aber seine Augen, die immer Spiegel ihrer eigenen gewesen waren, hatten sie angeschaut wie die eines Fremden.
Sie schluckte und blinzelte erneut ein
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