Die Toten von Bansin
Mittwoch, 19. September 2012
Er kann sich nicht erinnern, weià weder, wie spät es ist, noch wo er sich befindet. Endlich gelingt es ihm, die Augen zu öffnen. Er sitzt in seinem Auto, es ist dunkel und still, er kann sich nicht bewegen, ist wie gelähmt. Die Luft umflieÃt ihn wie zäher Brei, liegt schwer auf seinen Gliedern, nicht einmal den Kopf kann er drehen. Aus der Ferne naht ein Zug.
Von links ein Lufthauch, das Fenster der Fahrertür ist offen. DrauÃen scheint jemand zu stehen. Schwerer Atem ist zu hören, dann eine Stimme, ein heiseres Flüstern, ein Zischen. Der Hass darin erschreckt ihn mehr als die Worte.
Jetzt ist der Moment, in dem er aufwachen sollte aus dem Albtraum.
Sonntag, 16. Mai 2010
Ihr letzter Arbeitstag im Reisebüro war ein Freitag gewesen. Ãber drei Jahre hatte sie dort Reklamationen bearbeitet, eine undankbare Aufgabe, die der Chef nun wohl selbst erledigen musste. Vielleicht hatte er deshalb fast Tränen in den Augen, als er ihr mitteilte, es ginge nicht anders, er müsse Personal abbauen, vielleicht, wenn es wieder besser laufe ⦠Nun ja, es war keine Katastrophe. Er würde sogar noch eine Abfindung zahlen. Sie hatte sich gleich arbeitslos gemeldet. Ab Montag wollte sie sich in aller Ruhe nach etwas Neuem umsehen.
Inzwischen war es früher Sonntagnachmittag. Sophie Kaiser, 45 Jahre alt, ledig, aber liiert, saà schlecht gelaunt in der Wohnung ihres Lebensgefährten in Berlin-Friedrichshain. Vom Spielplatz her ertönte Kindergeschrei, vor dem Haus heulte ein schweres Motorrad und auf dem Nachbarbalkon wurde die Grillsaison eröffnet. Nichts, was ihre Stimmung verbessert hätte. Selbst der strahlende Sonnenschein erinnerte sie nur daran, dass die Fenster dringend geputzt werden müssten.
Sophie hatte sich in dieser Wohnung nie wohlgefühlt, sie immer nur als vorübergehenden Aufenthalt betrachtet. Inklusive des Mannes, der zu dieser Wohnung gehörte. Rüdiger sah gut aus, war gebildet, hatte Manieren, aber er war ihr egal. Eigentlich lebte sie nur noch aus Bequemlichkeit mit ihm zusammen.
Ihre Beziehungen waren immer irgendwie gescheitert, nie hatte es ganz gereicht, kein Mann erschien ihr gut genug für ein ganzes Leben â drum prüfe, wer sich ewig bindet â nun ja, sie hatte wohl zu streng geprüft, zu lange auf die ganz groÃe, romantische Liebe gewartet, die es vermutlich gar nicht gab. Oder die sich vielleicht entwickelt hätte, aus einer Beziehung, der Sophie keine Zeit gegeben hatte. Geduld zählte nicht zu ihren Stärken. AuÃerdem fühlte sie sich immer wieder zu verheirateten Männern hingezogen. Aus einer unbewussten Bindungsangst heraus? Mag sein.
Sie lächelte ein wenig, als sie an Frank Sonnenberg dachte, mit dem sie sich heimlich traf, wenn er beruflich in Berlin war. Mit seinem Charme, Humor und seiner Unbekümmertheit war er das genaue Gegenteil zu Rüdiger. Er kam aus Bansin, dem kleinen Idyll an der Ostsee, wo ihre Tante lebte. Als Kind hatte Sophie dort alle Sommerferien verbracht und bis heute auch die meisten Urlaubstage.
Sie sah sich in der teuer und modern eingerichteten, ungemütlichen Wohnung um. Hier gab es nichts, woran ihr Herz hing, nichts, was ihr wirklich Freude machte. Ihre persönlichen Sachen lagerten in Pappkartons verstaut im Keller.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, es keine Minute länger auf diesem Sofa, in diesem Haus, in dieser Stadt auszuhalten. Rüdiger würde bald heimkommen, herumnörgeln, sie solle sich um einen neuen Job bemühen und dafür diverse Vorschläge machen, die sie absolut nicht interessierten. Schon jetzt konnte sie sich ausmalen, wie das Gespräch verlaufen würde. Wahrscheinlich würden ihm auch noch die ungeputzten Fenster auffallen und natürlich müsste er sie dann wieder daran erinnern, dass es schlieÃlich seine Wohnung sei, in der sie lebten. Was hatte sie nur geritten, ihre eigenen vier Wände in Marzahn aufzugeben?
Sie sprang auf und lief in die Küche. Von der grünen Wandtafel neben der Tür löschte sie Rüdigers Einkaufsliste. Dass sie dazu einfach das Geschirrhandtuch benutzte und dass er nun nicht mehr wusste, was im Haushalt fehlte, würde ihn wahrscheinlich am meisten ärgern. Vielleicht mehr als ihr lakonischer Abschiedssatz, der jetzt auf der Tafel stand: »Ich bin weg. Machâs gut.«
Nach kurzer Ãberlegung löschte sie die letzten beiden
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