Unschuldslamm
A KALIN K ÖYÜ, S ÜDOSTANATOLIEN,
EIN S AMSTAG IM J ULI, ZWANZIG U HR
Der Blick aus seinen schwarzen Augen folgte ihr überallhin. Derya hatte sich mit dem Rücken zu ihm gesetzt, aber selbst jetzt, wo sie ihn nicht mehr sehen musste, spürte sie quer durch den gesamten Raum das giftige Brennen seines Blickes.
Derya nahm einen weiteren klebrigen Fruchtwürfel und zog ihr Handy aus der Tasche. Vali hatte sich immer noch nicht gemeldet, dafür schickte Michelle schon die zehnte SMS . Ihrer besten Freundin war langweilig, zu Hause, in Berlin. Fast viertausend Kilometer weit entfernt. Lichtjahre weit entfernt. Sie und Michelle hatten sich vor Wochen, zu Beginn der Schulferien, den Spaß gemacht und Akalin gegoogelt. Sie hatten sich schlappgelacht, als der Satellit von Google Maps immer näher rangezoomt hatte auf das Dorf in den Bergen, das die große Suchmaschine zu Deryas Erstaunen tatsächlich gefunden hatte. Sie hatten gelacht, als sie gesehen hatten, wie klein es tatsächlich war und dass es dort nichts gab außer Bergen, einer Straße und Staub. Aber als Derya gesehen hatte, dass es von dort nur ein Katzensprung war nach Syrien und in den Irak, hatte sie Angst bekommen. Richtige Angst. Sie hatte sich plötzlich vorgestellt, ihr Vater würde sie dortlassen, sie Onkel Bozan als Pfand geben. Michelle hatte Witze gemacht über Moslems und lange Bärte, verschleierte Frauen und Typen, die es mit Ziegen trieben, aber Derya konnte darüber nicht lachen. Viertausend Kilometer für ein Fest, das ein Fremder gab. Derya war der Sinn dahinter unklar gewesen, aber Aras hatte ihr klargemacht, dass sie keine Wahl hatte. Ihre Anwesenheit sei wichtig für ihren Vater. Es ging um einen Clan, mit dem ihr eigener Clan, den sie gar nicht kannte, der vielmehr der Stamm der Familie ihres Vaters und ihrer Mutter war, einen Streit gehabt hatte. Es ging um die Ehre und den Stolz, um Arbeitsplätze und den Staudamm.
Derya hatte nicht verstanden, was ihr Bruder ihr erklärte, sie hatte es nicht verstehen wollen, sie hatte nur kapiert, dass sie ihre gesamten Sommerferien in den verschissenen anatolischen Bergen verbringen sollte. Wo es nichts gab außer trockenen Steinen und fremden Menschen, die sie in den Arm nahmen und auf die Wangen küssten und die sie Onkel, Tante, Cousin und Cousine nennen sollte. Zum Glück wohnten sie nicht hier in den Bergen, sie wohnten eine Stunde entfernt in Yasikan Köyü, bei Verwandten von Mama. Deryas einzige Rettung war, dass es beinahe überall Netz gab, sogar in dem Ziegenkaff hier. Derya schickte Michelle verstohlen eine Nachricht zurück. »Sucks. Ldgd.« Dann schob sie das Handy wieder in ihre Hosentasche. Sie guckte kurz über die Schulter, aber er starrte noch immer, obwohl jetzt Onkel Bozan neben ihm saß, ihm den Arm um die Schultern gelegt hatte und auf ihn einredete. Jetzt sah auch Bozan zu ihr herüber und lächelte. Derya wandte sich wieder um. Sie sollte Bozan »Onkel« nennen, dabei waren auch sie nicht verwandt. Nicht dass sie wusste jedenfalls. Sie hatte ihn vor diesem Fest noch nie gesehen. Ihre Verwandtschaft war offenbar weitläufig. Auch in Berlin brachte ihr Vater ständig irgendwelche Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten an und schwor seine Familie darauf ein, dass sie ja zuvorkommend sein sollten. Mama kochte dann tagelang und fuhr ohne Ende kurdische Spezialitäten auf, und der gläserne Couchtisch im Wohnzimmer war viel zu klein, um alle Teller, Schalen und Schüsseln zu tragen. Papa stellte zwei gelbe Metro-Kisten links und rechts daneben und legte Sperrholzplatten darauf, die er passend zugeschnitten hatte. Dann kamen die furchtbaren Spitzendeckchen darüber, die mal Teil von Deryas Ausstattung werden sollten. Sie hatten bereits zu Mamas Ausstattung gehört, und Derya hoffte, dass sie im Zuge der vielen Bewirtungen eines Tages so ruiniert sein würden, dass Mama und Papa sich schämen würden, sie ihrem Ehemann mitzugeben. Aber eigentlich wollte sie sowieso nicht heiraten.
Die Mehrzahl dieser angeblichen Verwandten sah Derya nie wieder. Nur wenige kamen weiterhin zu Besuch in die Wohnung in Moabit. Meistens traf Papa sich mit den Männern irgendwo, schloss Geschäfte ab und nahm Aras mit. Sie und Mama hatten damit nichts zu tun.
Derya leckte sich den Puderzucker von den Fingern. Ihr war schon ein bisschen schlecht von dem Zuckerzeug. Diese klebrigen Fruchtwürfel fand sie richtig eklig, in Berlin fasste sie das Zeug nicht an. Aber jetzt hatte sie furchtbaren Heißhunger
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