Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
unendlich viele Schattenreiche erforscht und ganze Leben auf Welten verbracht, auf denen die Zeit anders lief. Sie hatte so viel erlebt und so viel getan, doch ein großes Geheimnis gab es immer noch, eine Frage, auf die sie keine Antwort wusste: Wer hat mich erschaffen? Prometheus hatte sie zum Leben erweckt, doch wer hatte die Tonstatuen in Menschengestalt geformt und in die namelose Stadt gestellt?
Auch nach jahrtausendelangen Nachforschungen war sie der Wahrheit kein Stück näher gekommen. Selbst ihr Mann, der legendäre Abraham der Weise, hatte keine Antwort auf diese Frage gehabt. »Und vielleicht wirst du es nie erfahren«, hatte er einmal zu ihr gesagt. »Ich weiß nur eines, dass du aus einem ganz bestimmten Grund hier bist. Du und dein Bruder, ihr wart von Anfang an dazu bestimmt, entdeckt zu werden. Ihr wart dazu bestimmt, von Prometheus zum Leben erweckt zu werden. Vielleicht wirst du eines Tages den Grund deiner Existenz erfahren.«
Und jetzt, auf einer kalten, feuchten Brücke an diesem Sommerabend in San Francisco, glaubte Tsagaglalal, diesen Grund gefunden zu haben.
Intensive Hitze strömte durch ihren Körper und über die Arme in ihre Hände. Sie lagen als offene Schalen in ihrem Schoß, die linke Hand über der rechten. Ihre Finger leuchteten, die Spitzen brannten rot, dann gelb und schließlich weiß glühend. Ihre Fingernägel schmolzen und eine gelatineähnliche Flüssigkeit tropfte in ihre Hände.
Widerlich intensiver Anisgeruch hatte ihren Jasminduft verdrängt.
Tsagaglalal schaute auf ihre Hände. Eine kleine Pfütze blutroter Aura schimmerte in ihren Handflächen. Unendlich vorsichtig hob sie die Hände … und hielt inne. Es war nicht genug. Sie hatte an diesem Tag schon zu viel von ihrer Aura verbraucht, als sie sich verjüngt hatte. Es reichte nur noch für einen.
Aber für welchen von beiden?
Tsagaglalals Blick wanderte von Niten zu Prometheus und zurück zu dem Unsterblichen. Sie mochte ihn. Er war still und kein bisschen eingebildet, doch sie wusste, dass er als gefürchteter Krieger und Ehrenmann galt. Er war etwas Besonderes: Er hatte sich den Sparten gestellt in dem Wissen, dass er den Kampf wahrscheinlich nicht überleben würde. Er war bereit gewesen, sein Leben für die Stadt zu opfern. Er verdiente es, weiterzuleben.
Tsagaglalal schaute nach rechts. Prometheus gehörte dem Älteren Geschlecht an. Für den bevorstehenden Kampf waren seine Kräfte eher gefragt, oder? Und was eine noch größere Rolle spielte: Prometheus war wie ein Vater für sie. Seine Aura hatte ihr das Leben geschenkt, da war es nur recht und billig, dass sie ihm dieses Geschenk ebenfalls machte.
Tsagaglalal blinzelte. Plötzlich liefen ihr Tränen übers Gesicht und die Welt löste sich in regenbogenfarbene Splitter auf. Sie hatte in ihrem Leben bisher nur ein einziges Mal geweint. Das war an dem Tag, als Danu Talis untergegangen war und sie ihren Mann verloren hatte.
»Es tut mir leid, Niten«, flüsterte sie und flößte Prometheus die blutrote Flüssigkeit ein.
Die Wirkung setzte augenblicklich ein.
Die Aura des Älteren loderte tiefrot um seinen Körper herum auf. Ein Schauer überlief ihn, dann hustete er und öffnete die grünen Augen.
»Hallo, Vater.«
Prometheus hob die Hand und streichelte ihre Wange. »Genau so hatte ich dich in Erinnerung«, flüsterte er. »Genau so habe ich dich das erste Mal gesehen, jung und schön. – Die Sparten?«
»Tot. Alle tot.«
»Und Niten?«
Sie senkte den Kopf. »Ich konnte nur einen von euch retten.«
Prometheus versuchte sich aufzusetzen und sie ergriff seinen Arm und half ihm. »Tsagaglalal, was hast du getan?«
»Mich für das Geschenk revanchiert, das du mir vor langer Zeit gemacht hast. Du hast mir das Leben geschenkt, jetzt habe ich dir deines zurückgegeben.«
Er wandte sich ihr zu. »Aber zu welchem Preis?« Noch während er sprach, begann sie zu altern. Falten erschienen auf ihrem Gesicht und eine weiße Haarsträhne fiel zwischen ihnen auf den Boden.
»Ich glaube, dazu war ich bestimmt«, erwiderte sie.
»Ohne meine Aura wirst du dich nicht wieder verjüngen können. Du wirst wie jeder gewöhnliche Mensch altern und bald sterben.«
»Alles hat seinen Preis«, antwortete Tsagaglalal, »und ich bin bereit, diesen zu bezahlen. Er erscheint mir gering für die unzähligen Leben voller Erfahrungen.«
Prometheus betrachtete Nitens reglosen Körper. »Aber du hast den Falschen ins Leben zurückgeholt, Tsagaglalal.«
»Nein!«
»Doch.
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