Die Geheimnisse des Nicholas Flamel - Die silberne Magierin: Band 6 (German Edition)
…
Dr. John Dee rappelte sich auf und klopfte sich penibel den Staub aus den Kleidern, bevor er an den Zwillingen vorbeiging und sich tief vor dem Paar in den weißen Rüstungen verneigte. »Meine Gebieter, es ist mir eine Ehre – eine große Ehre –, Euch wieder gegenübertreten zu dürfen.« Er hob den Kopf und blickte von einem zum anderen. »Ich war maßgeblich daran beteiligt, dass die legendären Zwillinge jetzt vor Euch stehen. Das wisst Ihr sicherlich zu schätzen.«
Osiris schaute Dee mit einer Andeutung des Lächelns an, das er den Zwillingen geschenkt hatte. »Ah, der verlässliche Dr. Dee, der geborene Opportunist …« Er streckte die rechte Hand aus, drehte den Handrücken nach oben und der Magier beeilte sich, sie mit beiden Händen zu ergreifen und die Finger zu küssen. »… und von jeher ein Idiot.«
Dee blickte rasch auf und wollte zurückweichen, doch Osiris hielt seine Hand fest. »Ich war immer –«, begann der Magier alarmiert.
»… ein Idiot«, ergänzte Isis.
Ein Schatten glitt über Osiris’ Gesicht, und als er die spitzen weißen Zähne entblößte, wurde es von einem Augenblick zum nächsten zu einer Maske des Grauens. Unvermittelt legte der kahl geschorene Mann die Hände so um Dees Kopf, dass die Daumen auf den Wangenknochen des Unsterblichen ruhten. Dann hob er den Magier hoch, bis er keinen Boden mehr unter den Füßen hatte. »Und was nützt uns ein Idiot … oder schlimmer noch, ein fehlerhaftes Werkzeug!« Osiris’ blaue Augen waren auf einer Höhe mit denen des Magiers. »Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich dich unsterblich gemacht habe, Dee?«, flüsterte er.
Der Doktor versuchte, sich zu befreien. Seine Augen waren vor Entsetzen plötzlich ganz groß. »Nein«, keuchte er.
»Als ich dir sagte, ich könnte dich wieder sterblich machen?«, fuhr Osiris fort. Dann flüsterte er: » Athanasia-aisanatha «, und schleuderte den Magier von sich.
Dee segelte durch die Luft, und bis er Virginia Dare vor die Füße fiel, war er ein alter Mann, ein verschrumpeltes Lumpenbündel. Das Gesicht war voller Runzeln, ganze Strähnen grauen Haars lagen um ihn herum auf dem seidigen Gras, die Augen waren milchig weiß, die Lippen blau.
Entsetzt blickten Sophie und Josh auf den eben noch energiegeladenen Mann. Er war jetzt unvorstellbar alt, dem Tod näher als dem Leben, aber sich seiner selbst und seiner Umgebung immer noch bewusst. Sophie wandte sich wieder dem Mann zu, der aussah wie ihr Vater, dessen Stimme klang wie die ihres Vaters … und musste feststellen, dass er ihr vollkommen fremd war. Ihr Vater – Richard Newman – war ein liebevoller, freundlicher Mensch. Zu einer solchen Grausamkeit wäre er nie fähig gewesen.
Osiris sah Sophies Gesichtsausdruck. »Bilde dir ein Urteil, wenn du sämtliche Fakten kennst«, sagte er. Sein Ton war eisig.
»Du hast die Erfahrung noch nicht gemacht, Sophie, aber es gibt Zeiten, in denen Mitleid eine Schwäche ist«, ergänzte Isis.
Sophie schüttelte den Kopf. Das sah sie nicht so. Und obwohl die Frau mit der Stimme von Sara Newman redete, sagte Sophies Gefühl ihr, dass sie nicht ihre Mutter war. Diese kannte Sophie nur als einen der freundlichsten und herzlichsten Menschen überhaupt.
»Mitleid hat der Doktor noch nie verdient. Auf seiner Suche nach dem Codex hat er Tausende umgebracht. Seinen Ambitionen fielen ganze Nationen zum Opfer. Dieser Mann hätte euch beide ohne mit der Wimper zu zucken ermordet. Du musst dir immer vor Augen halten, dass nicht alle Ungeheuer aussehen wie Bestien, Sophie. Verschwende dein Mitgefühl nicht auf Kreaturen wie Dr. John Dee.«
Noch während die Frau sprach, fing Sophie schwache Erinnerungsfetzen der Hexe von Endor zu dem Paar auf, das als Isis und Osiris bekannt war. Die Hexe verachtete beide.
Unter gewaltiger Anstrengung hob Dee die linke Hand und wies auf seine Gebieter. »Ich habe Euch jahrhundertelang gedient …«, krächzte er. Die Anstrengung war zu groß und er fiel zurück ins Gras. Unter der runzligen Kopfhaut zeichnete sich die Form seines Schädels deutlich ab.
Isis ignorierte ihn. Sie wandte sich an Virginia Dare, die während der ganzen Zeit unbewegt dagesessen hatte. »Unsterbliche, die Welt wird sich über alle Maßen verändern. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Und wer gegen uns ist, wird sterben. Wo stehst du, Virginia Dare?«
Die Frau erhob sich anmutig. Mit der linken Hand ließ sie locker ihre hölzerne Flöte herumwirbeln. Ein einzelner Ton blieb wie ein
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