Die Geisel
Führung, legte die letzten zwanzig Meter mit vorsichtigen Schritten zurück. An der Kurve lehnte er sich mit dem Rücken flach an die Felswand und lugte um die Ecke. Kenny hatte recht. Das Wohnmobil stand mitten auf dem Pass. Der Feuerwachturm erhob sich wie ein riesiger Wasservogel über dem kahlen Grund. Ein dunkelgrüner Pick-up parkte in der Straßenmitte, etwa sechs Meter von dem Wohnmobil entfernt.
Kennys Hand zog seine Schulter zurück. »Das ist Bob Temples Truck«, flüsterte er. »Unser ›Ranger Rick‹. Sieht aus, als sitzt er einfach bloß da und wartet auf irgendwas.«
Corso lugte noch einmal um die Kurve. Kenny hatte recht. Jemand saß auf dem Fahrersitz.
»Wir rufen lieber die Kavallerie«, sagte Corso und zog Martys Handy heraus. Er klappte es auf. Die Worte ›Kein Empfang‹ blinkten vor seinen Augen. Er versuchte trotzdem, Rosens Nummer zu wählen … nichts.
Er gab Kenny Rosens Visitenkarte und Martys Handy. »Nimm den Wagen«, wies er ihn an. »Fahr nach unten, irgendwohin, wo du Empfang hast, und ruf diese Nummer an. Sag ihm, wir haben es gefunden. Wenn du ihn nicht erreichst, ruf den Notruf an.«
»Sind Sie sicher?«
»Mach schnell.«
»Wird ewig dauern zu wenden.«
»Los jetzt.«
Und dann setzte der Lärm ein. Wie das Röhren eines Elches, oder vielleicht das Muhen einer Kuh oder so etwas Ähnliches. Der Wind schien das Geräusch um sie herumzuwirbeln, es hörte sich an, als käme es aus allen Richtungen.
»Beeil dich«, drängte Corso.
Kenny wollte gerade losgehen, als das Geräusch abermals ertönte. Es klang nach Angst und Verzweiflung. Kenny blieb stehen, Corso richtete den Finger auf ihn. »Geh schon«, bedeutete er ihm lautlos. Kenny ging.
50
Das Erste, was er hörte, war eine raue Stimme. Dann das Geräusch einer Tür, die gegen die Wand des Wohnmobils schlug. Er rutschte auf der Suche nach Deckung zwischen den Felsen den Hang hinunter. Auf allen vieren versuchte er, Halt an dem steilen Abhang zu finden, sich mehr seitwärts- als abwärtszubewegen, um den Blick auf die Straße und die Autos nicht zu verlieren.
Er hatte sich gerade in eine bemooste Spalte zwischen zwei riesigen Felsblöcken gekauert, als Marty Wells in Sicht kam. Abgesehen von den Schuhen war er nackt. Mit einer Fernsehkamera vor der Brust hinkte er die Straße entlang. Blut aus einer Kopfwunde hatte die rechte Seite seines Gesichts rot gefärbt. Der Anblick des nackten Marty Wells im Wald war ein Zeugnis dafür, wie weit die Menschheit seit ihren Tagen als Jäger und Sammler gekommen war. Die genaue Richtung der Evolution, dachte Corso, war ausschließlich eine Frage der Interpretation.
Driver und Melanie kamen zusammen um das Wohnmobil herum. Sie war nackt. Nicht einmal Schuhe. Driver hatte sich den Karabiner umgehängt wie beim Militär. Seine rechte Hand war in Melanies Haar verkrallt, er schleifte sie mit, während sie jaulte wie ein störrischer Welpe. Sie versuchte, die Fersen in den Boden zu rammen, doch Driver war viel zu stark für sie.
Zehn Meter vor dem Pick-up schleuderte er sie gegen die Böschung. Sie rutschte aus und landete auf dem Hintern im Dreck. Driver zeigte auf sie. »Du bleibst, wo du bist«, befahl er. »Wenn du dich bewegst, muss er es ausbaden«, erklärte er und nickte dabei zu Marty hinüber. »Und wenn ich mit ihm fertig bin, dann finde ich dich und bringe dich um. Verstanden?«
Driver wartete ihre Antwort nicht ab. Mit der flachen Hand schubste er Marty noch ein paar Meter vor sich her. »Fertig?«
»Ich muss noch mal scharfstellen«, sagte Marty mit dünner Kinderstimme.
Corso beobachtete, wie Driver ein Funkmikrofon aus seiner Hosentasche zog und es mit dem Daumen einschaltete. Ungeduldig wartete er dreißig Sekunden.
»Fangen wir an«, befahl er schließlich.
Marty fummelte an ein paar Knöpfen herum, dann schaute er auf. »Ich hab keine spezifische Frequenz«, sagte er.
»Nimm eine mit mittlerer Reichweite. Irgendwas, das möglichst viele Sender empfangen.«
Marty änderte ein paar Einstellungen. »Probieren Sie, ob das Mikro funktioniert«, sagte er.
»Test, Test«, sagte Driver.
Marty nickte, er war bereit.
Driver ging zum vorderen Kotflügel des Geländewagens und hob das Mikrofon. »Hier spricht Captain Timothy Driver, U.S. Navy.« Ein Lächeln wanderte über seine Lippen. »Im Ruhestand«, setzte er hinzu. »Da die ABC-Tochter KYOK in Los Angeles es für angebracht hielt, mein Ultimatum betreffend die Sendezeit auf ihren Sendern verstreichen zu lassen,
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