Die Geliebte des Rebellen
Hochzeitstag von den Engländern geschändet und ermordet.”
AnnaClaire fühlte sich eigentümlich betroffen, verdrängte diese Empfindung aber sogleich. “Nach allem, was ich soeben gesehen habe, glaube ich, dass er den Tod einer Frau bereits vielfach gerächt hat. Kannst du dir vorstellen, wie viele englische Frauen allein heute den Verlust ihrer Männer und Söhne zu beklagen haben?”
Tavis gab keine Antwort. Er schien ganz und gar damit beschäftigt zu sein, den Einspänner durch das Gewirr von Karren, Wagen und Menschen zu lenken. AnnaClaire deutete sein Schweigen als stummen Widerspruch gegen ihre Meinung. Obwohl er und seine Frau für ihre Dienste gut entlohnt wurden, gab sie sich keinerlei Illusionen darüber hin, wem die Treue und Unterstützung ihrer Bediensteten galt.
Irland war Bridgets und Tavis’ Heimat, und sie fühlten sich dem irischen Volk zugehörig. Obwohl AnnaClaires Mutter in Dublin geboren und aufgewachsen war, galt ihre Tochter dennoch als Außenseiterin. Margaret Doyle hatte einen englischen Herrn von hohem Stand geheiratet und darauf bestanden, dass ihre Tochter in London erzogen wurde.
“So, da sind wir.” Tavis brachte die Kutsche zum Stehen. AnnaClaire, tief in Gedanken versunken, hatte nicht gemerkt, dass sie zu Hause angekommen waren. Der Kutscher half ihr beim Aussteigen und sagte: “Ich kümmere mich darum, dass Bridget das Huhn sofort bekommt.”
Im Gehen wandte sich AnnaClaire noch einmal zu ihm um. “Oh, jetzt hätte ich beinahe meinen Umhang vergessen.”
Die Kutsche rollte bereits in Richtung der Stallungen, und Tavis rief nur: “Ich bringe ihn ins Haus, sobald ich das Pferd versorgt und den Wagen sauber gemacht habe.”
Bevor AnnaClaire noch etwas erwidern konnte, verschwand der Einspänner bereits hinter der Hausecke.
AnnaClaire gab sich zufrieden und betrat das prachtvolle Herrenhaus Clay Court, das sich bereits seit sechs Generationen im Besitz der Familie ihrer Mutter befand, und beschloss, sich frisch zu machen und sich für den Besuch des ältesten Freundes ihres Vaters umzukleiden.
“Bridget, das Essen war köstlich.” AnnaClaire bedachte ihre Haushälterin mit einem freundlichen Lächeln.
“Vielen Dank, Mylady.” Bridget knickste. “Darf ich Euch noch Tee nachschenken?”
“Nein, vielen Dank. Aber vielleicht Lord Davis? Oder wollt Ihr lieber noch ein Glas Wein?”
Der alte Herr hob abwehrend die Hände. “Auf gar keinen Fall. Ich kann wirklich gar nichts mehr zu mir nehmen.”
“Es war sehr freundlich von Euch, mir heute Abend Gesellschaft zu leisten”, versicherte AnnaClaire.
“Ich habe mir gedacht, dass du dich ohne deinen Vater einsam fühlen würdest”, erwiderte Lord Davis, der AnnaClaire seit ihrer Geburt kannte. “Und außerdem war ich natürlich auch beunruhigt, als ich von den Geschehnissen am Hafen hörte. Hätte ich gewusst, dass du dich in der Nähe dieser Barbaren aufhieltest, hätte ich dich persönlich nach Hause gebracht.”
“Für mich bestand zu keiner Zeit irgendeine Gefahr”, beteuerte AnnaClaire. “Es ging den Angreifern ausschließlich um einen Mann namens Tilden.”
“Niemand kann sich unter solchen zu allem entschlossenen Männern sicher fühlen. Ein unschuldiges Wesen wie du macht sich keine Vorstellung davon, wozu diese Schurken fähig sind. Angeblich tun sie unbescholtenen englischen Mädchen Dinge an, die selbst hart gesottenen Männern die Tränen in die Augen treiben.”
Die Teller in Bridgets Händen klapperten, und AnnaClaire sah ihre Haushälterin besorgt an. “Du siehst blass aus”, sagte sie zu ihr. “Geht es dir nicht gut?”
“Doch, Mylady. Ich bin nur ein wenig müde.” Bridget drehte sich um und verließ beinahe fluchtartig das Speisezimmer.
“Wie wäre es mit einer Partie Schach, meine Liebe?” erkundigte sich Lord Davis.
Ablehnend schüttelte AnnaClaire den Kopf. “Ich bin ebenfalls sehr müde und würde Euch kaum Paroli bieten können.”
Der alte Herr gab sich mit dieser Antwort zufrieden und erhob sich. “Vielleicht ein anderes Mal.”
“Ja, herzlich gern.” AnnaClaire geleitete ihren Gast durch den Flur zu dem Eingangsportal. “Werdet Ihr Lady Thornlys Abendgesellschaft besuchen?” wollte sie wissen.
“Gewiss. Die Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen, obwohl ich vermute, dass das Essen dort nicht annähernd so gut sein wird wie das Mahl, das wir heute Abend genossen haben.”
Draußen stand schon Lord Davis’ Bediensteter neben dessen Kutsche und half seinem
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