Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Zivilisation, die sie beerbten: So übernahmen die von Gibraltar her eingewanderten Vandalen seit 429 im römischen Nordafrika weitgehend die Lebensart der geschlagenen Römer. Auch der Ostgote Theoderich regierte Italien von Ravenna aus nach antiken Mustern. Erst die später in Pavia herrschenden Langobarden versuchten ihr Stammesrecht dem römischen gleichzusetzen.
Staatsgebilde, die zu Vorläufern der heutigen europäischen Nationen wurden – das ist wohl die wichtigste Erbschaft der germanischen Stämme. Angelsachsen, Franken und Langobarden waren mit ihren Königtümern wesentlich an der Formung des heutigen Europa beteiligt. So verfänglich es also wäre, pauschal von den Germanen zu sprechen, so wichtig bleibt es, den Spuren germanischer Lebensweise sachgerecht zu folgen und sie sinnvoll zu deuten. Dazu möchte auch dieses Buch beitragen.
Hamburg, im Sommer 2013
Norbert F. Pötzl
Johannes Saltzwedel
EINLEITUNG
Traumbild der Ahnen
Aus antiken Quellen glaubte man auf das Wesen der Germanen schließen zu können. Daraus entwickelte sich seit der Renaissance ein Mythos, den Nationalisten in dumpfe Ideologie umdeuteten.
Von Georg Bönisch
Der Feldherr stürzte sich ins Schwert, voller Scham und voller Schuldgefühl. Etliche seiner Offiziere taten es ihm nach, während einfache Soldaten den noch qualvolleren Tod suchten – sie sprangen ins Moor. Tausende ihrer Kameraden waren da auf dem Schlachtfeld schon gestorben, durchbohrt, enthauptet, massakriert. Daheim im sieggewohnten Rom, weit über tausend Kilometer vom Schauplatz der Niederlage in Germanien entfernt, fiel Kaiser Augustus, der Imperator Caesar, Sohn des Gottes, der Pontifex maximus, aus höchsten Berufssphären in tiefste Verzweiflung. Monatelang ließ er Haupthaar und Bart wachsen, wieder und wieder stieß er mit dem Kopf gegen eine Tür und rief, angeblich: »Varus, gib mir meine Legionen zurück.«
Was da geschehen war im Jahre 9 nach der Zeitenwende, im Lande von offenbar ungeschlachten Wilden, von Barbaren, von Menschen, an denen außer Stimme und Gliedern nichts Menschliches gewesen sein soll, hat der wortgewaltige Historiker Theodor Mommsen mit nur einem Wort umschrieben: Varuskatastrophe.
Für die allermeisten Römer, Augustus und seine Entourage ausgenommen, schien sie dennoch wenig bemerkenswert und schnell vergessen. Dann aber war es etliche Jahrzehnte später ausgerechnet ein Römer, der die verlorene Schlacht zu einem weltpolitischen Ereignis umdeutete – der Ex-Senator und Schriftsteller Publius Cornelius Tacitus. Eines seiner schmalen Werke trug (auf Deutsch) den Titel »Über die Herkunft und die Lage der Germanen« und ein anderes »Annales«, und Tacitus tat so, als seien die Germanen eine in sich geschlossene Ethnie, ein richtiges Volk, gefährlich wie die großen Gegner Roms. Die Parther, die Karthager, die Gallier.
Nein, Germanen waren ein bunter Mix aus Stämmen, die höchstens regionale Bedeutung besaßen: Chatten und Chauken, Angrivarier und Brukterer, Hermunduren oder Usipeter, Semnonen und Triboker. Und Cherusker. Ihr Chefstratege Arminius hatte die drei Varus-Legionen in tagelangen Attacken aufgerieben; Tacitus setzte ihm ein Denkmal. »Ohne Zweifel« sei Arminius der »Befreier Germaniens« gewesen, schrieb er. Schon deshalb ein Befreier, weil er Rom nicht, »wie andere Könige und Anführer, in den Frühzeiten, sondern … auf dem Höhepunkt herausgefordert« hatte. Held Arminius, ein Siegertyp, der ein Volk repräsentierte, das »unvermischt« war, wie ein deutscher Schriftsteller und Denker im 19. Jahrhundert festhielt. Und keineswegs »verbastardet« durch fremde Völker. Arminius, der Bewahrer reinrassiger Gene. Germanischer Gene.
Aus den Phantasieerzählungen des Tacitus, der nie in Germanien war, konstruierten hierzulande Protagonisten des deutschen Humanismus fast anderthalb Jahrtausende später ein politisches Modell ganz früher territorialer Einheit: die römischen Texte gewissermaßen als Gründungsurkunde einer germanisch-deutschen Nation. Gleichzeitig verschafften diese Texte den Deutschen auch das »Adelsprädikat eines Altertums, das genauso weit zurückreichte wie das der Nationen, die sich von der lateinischen Antike ableiteten«, urteilt der Sozialgeschichtler Michael Werner. Wahrscheinlich hatte Tacitus nur die von ihm unterstellte Dekadenz seiner Landsleute brandmarken wollen und deshalb die – vermeintlich positiven – Attribute der Germanen herausgestellt: einfach, tapfer, treu, gerecht,
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