Die Germanen: Geschichte und Mythos - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
Treue und ähnliche Überzeugungen großen Wert legte, wollte man verstehen. Dazu wurde alles aufgeboten, was sich von Osteuropa bis Skandinavien und Island an sprachlichen, schriftlichen und archäologischen Spuren und Parallelen fand.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Meier : Die Thingversammlung, die alljährlich in Island stattfindende politische Beratung, glaubte man in einer winzigen Tacitus-Stelle wiederzuerkennen. Das genügte, um die Institution rückprojizierend auf alle Germanen hochzurechnen. Zwar gab es auch früher Skeptiker, aber erst nach 1945 wurde klar, welch fatales ideologisches Konstrukt diese Wesenssuche heraufbeschworen hatte. Seither ist fast alles, was man zu wissen glaubte, zerfasert und in Frage gestellt worden.
MISCHA MEIER
Der seit 2004 in Tübingen lehrende Professor für Alte Geschichte ist Fachmann für antike Historiografie und die Geschichte der Spätantike. Zuletzt veröffentlichte Meier, Jahrgang 1971, als Co-Autor das Buch »August 410« über den Westgoten Alarich, der als erster germanischer Herrscher Rom einnahm.
SPIEGEL: Wann setzt die Mythisierung ein? Im national gesinnten 19. Jahrhundert? In der Renaissance, die Tacitus’ »Germania« wiederentdeckte?
Meier : Die entscheidende Zäsur liegt schon bei Cäsar. Ein bisschen überspitzt kann man behaupten: Cäsar hat die Germanen erfunden.
SPIEGEL: Soll das heißen, für die Epochen zuvor darf man nicht von Germanen reden?
Meier : Das ist eben kompliziert. Sie können sprachlich argumentieren …
SPIEGEL: Aber woher gewinnt man sprachliche Zeugnisse, und wie datiert man sie?
Meier : Eben, da fangen die Probleme schon an. Archäologisch gibt es auch kaum Gewissheiten. Man kann vielleicht die Jastorf-Kultur abgrenzen, die von etwa 600 vor Christus bis zur Zeitenwende besteht. Aber wie germanisch ist sie? Oder es wird eine Gewandspange ausgegraben, eine Fibel. Aber was macht diese Fibel zur germanischen Fibel? Selbst die »Germania« des Tacitus lässt einen oft ratlos. Da wird eine Gottheit Nerthus erwähnt, die man am liebsten mit Freia oder anderen identifizieren wollte – alles Spekulation.
SPIEGEL: Tacitus war selbst nie in Germanien. Woher bezog er die Informationen, wie verlässlich sind sie?
Meier : Das ist das nächste Problem. Man kann noch härter fragen: Sind es überhaupt Informationen, was Griechen und Römer für ihre jeweiligen Zwecke festhalten, filtern und formulieren? Immer enden wir bei Konstrukten und Zuschreibungen.
SPIEGEL: Liefert denn wenigstens Cäsar Fakten?
Meier : Ja, ein paar. Zum Beispiel erwähnt er, dass Ariovist ganz anders sprach als die Gallier. Ein weiterer klarer Unterschied zu den Kelten: Die Germanen haben keine Druiden.
SPIEGEL: Das klingt aber reichlich holzschnitthaft.
Meier : Ist es auch. Die Pauschalität zeigt das Problem. Cäsar schreibt Kriegsberichte als Eigenwerbung; er muss begründen, warum er mit dem Erobern aufgehört hat, und will dazu nur knapp den ethnischen Unterschied benennen.
SPIEGEL: Sein Feind- und Fremdbild ist also eine primitive Karikatur?
Meier : Das wäre zu hart. Aber es geht nicht um Objektivität im heutigen Sinne. Auch die Antike behalf sich mit Konstrukten. Hautfarbe, Körperbau, eine fremde Sprache, die nicht keltisch klang – das genügte meist als Markierung des Andersseins.
SPIEGEL: Dieses Fremdbild wirkte wohl auch auf die Germanen zurück?
MEIER: Das ist unter den Althistorikern gerade ein großes Thema. Ohne den Bezug zum Römerreich sind die »Germanen« kaum denkbar. An den langen Grenzen entstehen Kontakt- und Übergangszonen der Kommunikation und des Handels; Güter wandern hin und her. Ein germanischer Anführer, der eine römische Waffe oder römisches Münzgeld vorweisen kann, gilt unter seinen Leuten mehr als zuvor, denn er hat Kontakt zum paradiesisch erscheinenden, technologisch gesegneten Süden, zur fernen Welt der Schönen und Reichen. Es ist archäologisch nachgewiesen, dass die römischen Kaiser Luxusgüter, beispielsweise prächtige Teller, eigens als Geschenke haben produzieren lassen.
SPIEGEL: Als Belohnung für Treue?
Meier : Zum Beispiel.
SPIEGEL: Wer mag denn mit Geschenken des Feindes prahlen?
Meier : So kriegerisch lebte es sich an der langen, langen Grenze ja gar nicht. Die Quellen erzählen viel von Konflikten; der normale Alltag in friedlicher Koexistenz kommt bei weitem zu kurz. Dabei sind genügend Germanen ins Römische Reich gegangen, wo sie ihr Glück suchten und nicht selten fanden. Übrigens gab es auch
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