Die neuen Großmächte: Wie Brasilien, China und Indien die Welt erobern - Ein SPIEGEL-Buch (German Edition)
VORWORT
Der Drache, der Elefant und die Piranhas
Als ich zum ersten Mal als Journalist in China, in Indien und in Brasilien war, wusste ich, dass ich dorthin immer wieder zurückkehren wollte – in diese Länder voller Zauber, voller Geheimnisse. Es war faszinierend, in Peking im Strom der Fahrräder dahinzugleiten, umschlossen vom Einheitsblau der Arbeiter, vorbei an Hutongs, vor denen Berge von Kohlköpfen aufgetürmt waren. Es war anrührend, abends in einem der Hinterhöfe auf dringenden Wunsch der Neugierigen, die selten eine »Langnase« zu Gesicht bekamen, deutsche Volkslieder zu singen. Es war aufregend, in Haridwar am Ganges das heilige Holi-Fest mit Hindus zu feiern, nach der Tradition beworfen mit zinnoberrotem Pulver, immer den scharfen Chili-Geschmack auf der Zunge, und dann am nächsten Tag mit Indira Gandhi in den Wahlkampf zu ziehen, quer durchs Land, bis sie sich endlich für ein Interview bereitfand. Es war erschütternd, in Rio de Janeiro vor dem Weiterflug ins Amazonas-Gebiet im Geheimen einen Regimegegner zu treffen, den die herrschenden Generale hatten foltern lassen: Wut, Tränen und Trauer vor der schönsten Kulisse der Welt.
Ich habe China, Indien und Brasilien schon vor über vierzig Jahren bereist, als ich für meine Dissertation über den Einfluss der Politik auf die Massenmedien und die politische Propaganda recherchierte. Dabei hielt ich mich oft an wissenschaftlichen Instituten auf, doch allein schon wegen des sehr begrenzten Budgets lernte ich, mit dem Rucksack auf dem Rücken, auch das Leben der »normalen« Menschen kennen. Meine ersten beruflichen Besuche fanden dann Mitte der Siebzigerjahre statt. Sie führten mich in die Amtsstuben von Ministern, Wirtschaftsbossen und Religionsführern wie zu denen, die unter ihnen litten: Reisen, die immer geprägt waren von sehr widersprüchlichen Eindrücken, oft anziehend und abstoßend zugleich. So freundlich die Menschen waren, so erdrückend empfand ich die Armut und die politische Repression. Die Geschichten, die ich von dort an die Heimatredaktionen schickte, musste ich telefonisch durchgeben, was oft 24 Stunden Wartezeit bedeutete. Oder per Telex, was auch nicht viel besser war, weil das gestanzte Band häufig riss und die Apparate in der Dritten Welt die Tendenz hatten, während der Sendung ihren Geist aufzugeben. Es waren banale Probleme. Angesichts der für die Menschen vor Ort herrschenden existenziellen Sorgen war es eher beschämend, sich darüber aufzuregen. Oft atmete ich vor Erleichterung durch, als das Flugzeug wieder Richtung Heimat abhob – und begann mich schon nach der zweiten Stunde in der Luft wieder zurückzusehnen nach den Farben, Gerüchen und Geräuschen. In innerer Vorbereitung auf den nächsten Trip.
Vieles hätte ich damals für möglich gehalten, aber nicht, dass diese drei problematischen Traumländer eines Tages so viel Zukunftsträchtiges verbinden würde. Und schon gleich gar nicht, dass sie einmal in den Augen vieler Experten für Aufbruch stehen könnten, für den Beginn einer neuen wirtschaftlichen und politischen Weltordnung.
Vergesst Europa, diesen zerstrittenen, in seinem eigenen Sud schmorenden Kontinent der Schuldenlasten und skandalösen Jugendarbeitslosigkeit! Und verabschiedet euch gleichzeitig von der Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten, dieses Land der unbegrenzten Schulden, kaputten Infrastruktur und inneren Spannungen, dem in Krisenzeiten nicht viel mehr einfällt, als die Notenpresse anzuwerfen, weiter an der Weltspitze stehen werden – das nacheuropäische, das postamerikanische Zeitalter hat begonnen! »500 Jahre lang hat der Westen mit seinen Institutionen und Ideen geherrscht. Damit ist es jetzt vorbei«, schreibt der britische Historiker Niall Ferguson 2013 lapidar.
So denken und reden und argumentieren in diesen Tagen viele. Sie schieben die negativen Nachrichten aus China, Indien und Brasilien zur Seite, die Berichte über die Umweltskandale von Lanzhou, die Vergewaltigungsorgien von Neu-Delhi, die Serie von Polizistenmorden von São Paulo. Und sie tun so, als gingen da nicht Hunderttausende Unzufriedene in Brasilien auf die Straße, als demonstrierten nicht fast täglich Chinesen und Inder gegen Korruption und für bessere Arbeitsbedingungen. Als zeigte nicht auch das Wirtschaftswunder der Schwellenländer erhebliche Risse.
Man wird dennoch kaum behaupten können, dass die Propheten des westlichen Niedergangs keine Argumente hätten. Sie haben, ganz im Gegenteil,
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