Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
Freunde, gute, verläßliche Genossen des Glückes — und des Unglücks und Tröster, ach, so tapfere Tröster!
Heute jedoch war alles anders, und die Welt erschien ihr wie neu, befreit von Träumen und Seligkeiten und Schmerzen, unberührt, wie am ersten Tag, und sie vermeinte, sie zum ersten Mal klar mit klaren Augen zu sehn, wie sie war — tüchtig und wahr und notwendig, der Teil eines Ganzen, in sich selbst ein Ganzes … Heut, da sie vermeinte an ihrem Leben, dem vergangenen und zukünftigen, die einheitliche Richtung zu erkennen, sah sie auch in der vertrauten Welt zum ersten Mal die sinnvolle Schöpfung.
Als sie in das Birkenwäldchen einbog, blickte sie mit ruhigen Augen in die gelben Gipfel. Kein frech lockendes Gold lag heute in der Luft, nur ein schöner, gedämpfter Schein. Und sie fühlte wohlig, wie rasch und leicht sie schritt und wie leicht der Atem ging. War denn die, so einst mit müden Füßen und ach, so schwerem, schier brechendem Herzen unter den tiefen Ästen geschritten, wirklich sie gewesen? So frei war ihr nun, so leicht! Und sie spürte, was ihr die Brust mit diesem süßen Drange weitete, das war nicht bloß das Freiheitsgefühl des Ungebundenen, wohl aber dessen, der sich von Banden befreit. Ja, es hatte alles einen Sinn, und kein Weg führte zur Höhe, der nicht durch Qualen gegangen.
Auch am Holunderbusch schritt sie sicher und ungehemmten Fußes vorbei, und dann erschien auf einmal über den Obstbaumkronen das lustig umflatterte Taubenhaus, und als sie ganz nahe war, entdeckte sie am kleinen Fenster des aufgebauten Dachkämmerleins ihren Bruder, wie er, die Hausmütze auf dem perückenlosen Kopf, an einem seiner Vogelkäfige hantierte. Und wie sie ihn so sah, da kam die ganze Freude der Botschaft über sie, die sie zu bringen hatte, daß sie den Bruder anrief und lustig nach dem Fensterchen hinaufwinkte.
Rudolf blickte erstaunt hinaus und grüßte sie freudig wieder: „Ich komme gleich hinunter!“
Da sie aber schnell wie ein Kind nach dem Scheuertor lief: „Ich komme zu dir!“ hörte sie, wie er ihr etwas nachrief, dringlich, wie eine Warnung, das sie jedoch nicht verstand: Kann’s mir nachher sagen, dachte sie und huschte durch die dunkle Scheuer und über den steilen Treppensteg empor; da riß Rudolf oben das Knattertürlein auf und rief es noch einmal, und nun verstand sie es auch: „Gib acht, das Geländer, zu oberst!“ Aber im selben Augenblick ging ihr die dünne Treppenlehne aus der Hand, und haltlos stürzte sie in die Tiefe.
*
Rot, so rot — aber das waren ja die Feuerblumen, ach, ein ganzes Meer, weithin bis zum Wald hinüber.
Anna legte sich auf den Rücken, und die roten Blumen hingen über ihr: „So sollt man sie beschauen, wann der Blauhimmel durch die rote Seide der Blätter scheint. Oh, sie ist mir doch die liebste unter allen Blumen.“
Aber Sibylla schüttelte den Kopf: „Nein, sie ist heiß und herb, und sie riecht wie ein Totes!“ Und dann nahm sie einen dicken Kranz und legte ihn um die Stirn.
„Das kannst du nicht,“ sagte Anna, „denn dein Haar ist weiß.“ Aber Sibylla lächelte und nickte nach dem Wald hinüber, und dort stand Giulio und wollte auch lächeln und nicken; doch es ging nicht, eine breite Schramme lief ihm mitten durchs Gesicht, und viel Blut rann heraus, und wenn man recht sah, ja, da war es wohl das Blut, das die Blumen alle so rot machte.
Christoph legte den Kopf in die Hand und sang:
„Wie ein Schaum auf wilder Flut,
Die die Wind erheben,
Wie der Rauch von einer Glut …“
Und dann hatte Anna plötzlich Sibyllas Kranz auf der Stirn, und da spürte sie, daß es nicht Blumen waren, wohl aber Feuer und Glut, und sie wollte ihn herunterreißen; aber sie konnte es nicht, denn sie hatte ja keine Hände mehr, und auch die Füße waren weg, und alles, nur noch der Kopf, und der war in lauter Feuer. Und auf einmal stand Lux da und lachte, so von der Seite her und mit der scharfen Nase in der Luft, und wies nach dem stumpfen Münsterturm hinüber: „Nun bekommt’s doch noch einen Kopf, du, wann du hinüber fliegen kannst.“
Und dann war alles weg — nur mehr die rote Glut weithin, weithin …
Anna öffnete die Augen, und immer noch sah sie in ein rotes Meer; aber das waren keine Blumen, nur die runden Scheibchen, die der Abendhimmel mit Rubinglanz füllte. Und da stand ja Frau Enneli mit dicken roten Augen und daneben Rudolf, ganz weiß, und suchte zu lächeln.
Wie war das nur?
Richtig, sie war ja gestürzt, ah,
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