Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
ein Bekräftigungswort aus jener gaunerischen Geheimsprache herfürholte, so die Jungen in dem verschwiegenen Stadtviertel unten an der Aare führten, tönte es wie Eid und heiliges Schwören.
Indessen hatte Giulio ungestüm das Fenster geöffnet und sog nun mit seufzendem Atem die durchsonnte Luft ein, die leise zitternd ins Zimmer drang. Dann warf er sich in die Fensterbrüstung und bog den geschmeidigen Körper hinaus, daß sein schwarzes Samtwams mit scharfen Konturen gegen die klare Luft stand. Seine Blicke umspannten entzückt die maienbunte Welt. In wundervollem Reichtum tat sie sich vor ihm auf, herrlich gestuft von den schimmernden Zacken der Schneeberge, die ein zarter Duft weit am Himmel hinaufrückte, über Voralpen, Wälder und Hügel bis hinunter zum tiefgewühlten Aarebett. Plötzlich blieb sein Auge an einem Punkte hängen. Er beugte den Kopf weit hinaus, daß die wohlgepflegten Locken im Morgenwind wehten; dann griff er niederwärts nach einer der amethystfarbenen Blütentrauben, die aus dem knorrigen Gerank unterhalb des Fensters herausdrängten, und warf sie in schönem Schwung durch die helle Luft. Ein kleiner, erschreckter Schrei antwortete von unten.
In diesem Augenblicke kam der Meister zurück. Ein unwirscher Zug ging über sein lebhaftes Gesicht, da er das müßige Treiben seines welschen Schülers gewahrte, und als er vor dessen verlassene Staffelei trat, zogen sich seine starken Brauen dunkel zusammen, und die reichgetürmten Locken seiner braunen Allonge gaben einem mißbilligenden Kopfschütteln ein vielfaches Echo.
„Flüchtig, flüchtig, Giulio! Solchermaßen bringt Ihr niemalen einen rechten Laokoon heraus. Der fähige Geist allein tut’s nicht, es sind auch Fleiß und Aufmerksamkeit vonnöten!“
Der Angeredete wandte sich leicht dem Lehrer zu und ließ ein übermütiges Feuerchen in seinen warmen Augen aufspringen: „Ach, laßt den alten Gorilla, teurer Maestro! Seht her, gebt mir dies zu malen, und Ihr sollt Euch nicht länger über meinen Unfleiß beklagen müssen!“
Mit diesen Worten zog er den halb unwilligen Herrn Werner ans Fenster und zwang dessen Blick nach dem unteren Garten, wo des Meisters junge Tochter Sibylla über den lohbelegten Weg heraufschritt. Von den leuchtenden Narzissen, die aus schmalen braunen Beetchen der Mauer entlang ihren Wohlgeruch schwadenweis ausatmeten, hielt das Mädchen einen dicken Strauß in Händen, und die Sonne legte einen vielfarbigen Lichtschein um ihren blonden Scheitel und das weiche Gesicht, darauf eine zarte Röte sich zusehends vertiefte. Es lag zu viel Lieblichkeit in diesem Anblick, als daß er nicht Herrn Werners Unmut hätte verscheuchen müssen. Ein erfreutes Lächeln, darein Vaterstolz und Malerlust sich teilten, ging durch seine klugen Augen und verschwand nicht, als Giulio einen Danteschen Vers gleich einer weichen Melodie vor sich hinsang:
„Tanto gentile, tanto onesta pare
la donna mia …“ 4
Denn ein Vergleich seiner stillen Sibylla mit der himmlischen Beatrice schien ihm in diesem Augenblick nicht so uneben. Erst als der Italiener den Meister mit stürmischen Bitten bedrängte, daß er ihn die Tochter malen lasse, wandte sich dieser stirnrunzelnd und mit abwehrender Gebärde vom Fenster weg in die Stube zurück:
„So meine Sibylla gemalt werden soll, weiß ich ihr eine würdigere Hand denn die Eure, Giulio!“
Aber der andere ließ nicht nach, und während Herr Werner mit festen Schritten den Raum durchmaß, verfolgte er ihn mit flehentlichen Worten:
„Hat nicht Tiziano die holde Lavinia durch seine Schüler malen lassen? Und hatte er nicht selbst als Schüler des Palma Vecchio blondes Kind unzählige Male mit seinem güldenen Pinsel verewigt?“ Als aber sein Bitten erfolglos blieb, warf er mit komischer Leidenschaft die Arme wie schmerzlich zum Himmel: „O Maestro, Maestro! Draußen wartet das gewaltige süße Leben, Ihr aber stellt uns vor Gipsleichen und tote Blätter!“
Der Meister hielt auf seiner Wanderung durch das lange, saalartige Gemach inne und kehrte sich mit brüsker Bewegung nach dem Sprechenden zurück. Ein Zorn wollte in dem dunkeln Gesicht aufsteigen; aber er verflog wie ein Wetterleich 5 und machte einem überlegenen Lächeln Platz.
„Ehe Ihr die Schönheit meiner Kupfer und Abgüsse versteht, die nach den fürtrefflichsten Meisterwerken der Welt geschaffen sind, werdet Ihr selbst keinerlei Schönheit herfürbringen, und solange Ihr den göttlichen Laokoon einen Gorilla nennt, wird
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