Die Geschichte der Anna Waser (German Edition)
stillen, da Hand und Geist ruhten.
Wo war nun ein Anfang und wo ein Ende? Aber das Ziel allgegenwärtig …
Als Anna die Augen wieder öffnete, war ein großes Leuchten darin und ein fremder Glanz, der den Bruder erschreckte: „Rudolf,“ sagte sie leise, und ihre Stimme bebte, „es ist alles anders, alles ganz anders — so groß und so klein … Oh, wann ich’s dir sagen könnte!“
Sie suchte nach Worten; aber da war es, als ob eine Riesenhand ihr nach der Brust griffe und sie zusammendrückte, daß der Atem stehen blieb und dann bang und kurz durch die Lippen flatterte, und ihre Augen wurden qualvoll und weit.
Aber als es nachließ, kam wiederum der seltsame Glanz: „Weißt du,“ flüsterte sie geheimnisvoll, „damalen, als die große Sonnenfinsternis war und der Schrecken kam über die Leut, daß sie Lichter anzündeten mitts am Tag und auf die Knie fielen und die Weiber, die das Spinnen nimmer sahen auf den Straßen, liefen davon und heulten — lauter Angst und Wirre — Aber auf einmal fingen die Amseln zu singen an, auf dem Lindenhof, alle zusammen zu ungewohnter Stunde und da man aufsah, war der Himmel weit und scheinend wie ein Amethyst … So ist es, Bruder, wir sehen durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort … Wornach wir jagen und was wir fürchten, ist nichts, aber das Große liegt in der Stille … Soviel Bangnis und Eifer, und ist doch alles gleich, wo wir aufhören und wann. Alles Ende ist Beginn, die Einkehr ins Ganze aber Sinn und Seligkeit … Denn Not und Glück des einzelnen gilt nicht, sondern allein das Ganze. Hörst, Bruder, das All-Ganze, das AllGemeine nur … Hörst du mich? Hörst du mich?“
„Ja,“ antwortete er gepreßt; aber er hatte nicht gehört und nicht verstanden, er sah bloß, wie ihre Augen wieder bang wurden und der Atem kurz, und er dachte: Nun geht’s an die Lunge, und darüber wollte ihm das Herz brechen.
Und dann kam es wiederum, stärker als das erste Mal, daß sie unter tausend Qualen rang und der Atem keuchte, und in all dem furchtbaren Kampf hatte nur das eine Wort mehr Raum: „Eng! Eng! So eng …“
Und dann wollte auch das Herz nicht mehr.
*
Als die brechende Dämmerung den ersten fahlen Schein über die Erde warf, wanderte Pfarrer Rudolf Waser auf den nachtfeuchten Wegen Zürich zu. Die frühsten Bauern, die ihn vorübergehen sahen, versunken und ohne Gruß, schauten ihm kopfschüttelnd nach: „Der studiert an einem schweren Text,“ und dann wandten sie sich wieder an ihre Arbeit.
Still und farblos lagen die kahlen Äcker und der See grau und trüb. Der Pfarrer sah in die verschattete Welt hinein. So arm, dachte er, so arm, wann das Licht fehlt, und mit neuem Schmerz kam es über ihn, was sie verloren diese Nacht, sie alle, und daß es auch für ihn grau geworden war und trüb. Und wiederum wie in dieser furchtbaren Nacht, da er mit blutleeren Fingern die weißen Lider über die geliebten Augen gelegt, empfand er es martervoll, wie alles Beste und Köstlichste in seinem Leben und alles Große und nach oben Gerichtete in seinem Sinn irgendwie mit diesem großen Herzen zusammengehangen hatte, das nun für immer stillstand.
Und da war die quälende Ahnung, daß sie an ihr gefehlt, nicht bloß Schlatter und das Estherlein, nein, sie alle — und wußte doch nicht recht wie und warum.
Aber dann stand die Stadt vor ihm, grau und hoch vor dem grauen Himmel, und die dunkeln Tore gähnten schwarz wie Rachen beutegieriger Tiere. Und dieses Bild rief einer frühen Erinnerung: Damalen, als sie von Rüti zurückkehrten, da hatte auch die Stadt so fahl und streng vor ihnen gestanden, und da hatte das Anneli plötzlich die Ärmchen um seinen Hals geworfen: „Rudi, da hinein, das kann ich nicht, so grau alles, so eng!“ und die Tränen waren ihm aus den bangen Augen gestürzt.
„So eng!“ Es war dasselbe Wort, das er diese Nacht zuletzt von ihr gehört. Und nun war es ihm, als ob er ihr ganzes Leben zwischen diese beiden Worte eingesperrt sähe wie in einem Ring, und es stieg ihm auf, wie sie immer nach der Weite verlangt hatte, früh schon, und dann, als sie wirklich hinausfuhren, selbander in die große Welt, wie alles neu an ihr wurde und größer, daß sie sich entfaltete, wie der Baum auf dem freien Felde, ja — und gestern, als er sie herankommen sah, war sie nicht leicht einhergegangen, wie beschwingt, und ihr Gesicht, wie es glänzte, da sie davon redete, daß es nun doch noch kommen würde, die Befreiung, ach, und lag doch schon arm und
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