Hundeleben
1
Freitag. Die Zeiger der Funkuhr rückten auf 23.43 Uhr vor. Ich saß am Schreibtisch, hielt ein Glas Wein in der Hand und wartete auf das Ende der Woche.
Ich war in Feierstimmung. Aus gutem Grund. Ich hatte die Miete für den nächsten Monat zusammen, war in keinen Rechtsstreit verwickelt und kannte Psychoanalytiker bislang nur aus alten Büchern und noch älteren Woody-Allen-Filmen.
Dabei war ich über 40, wohnte in Potsdam und war so solo, wie man in dieser Welt nur sein kann. Cleo , meine Frau, hatte mich vor drei Monaten verlassen. Oder ich sie? Vergessen. Alles lief bestens. Wenn man nicht allzu genau hinsah.
Unten an der Tür befand sich ein von mir angebrachtes Schild, darauf stand: Siegfried Gass , Privatdetektiv.
Also war ich Privatdetektiv. Für mich und vor allem für den Rest der Welt.
23.50 Uhr. Zeit für die Tageswertung. Ich ging daran, dem zurückliegenden Tag die Note sieben auf meiner privaten Gass-Skala von eins – wie unterirdisch – bis zehn – wie phänomenal – zu verpassen. Siebener Tage sind selten. Etwa so selten wie Schiffsuntergänge auf der Havel. Meistens lief es auf eine Zwei oder Drei hinaus. Hin und wieder auf eine Eins. Die letzten vierundzwanzig Stunden schienen den Wochendurchschnitt um ein paar Prozentpunkte heben zu wollen. Ich hatte nichts dagegen.
23.54 Uhr. Der Tag ging in die entscheidende Phase. Aus den Boxen perlte Mozarts Requiem. Karajan heizte den Philharmonikern ordentlich ein. Meine Stimmung stieg. Walter Berry brachte seinen Part hinter sich und Anton Dermota kam langsam auf Touren. Da ging das Telefon. Verdammt!
Die Sieben schrumpfte zu einer passablen Sechs. Ich hoffte, das Niveau würde sich halten lassen.
Ich griff zum Telefon.
»Siegfried Gass ganz privat.«
Am anderen Ende wurde aufgelegt. Auch gut. Ich stufte die Sechs hoch zu einer Sechs plus. Die Sieben allerdings war gestorben. Ich beerdigte sie mit einem kräftigen Schluck. Dann klingelte es erneut.
Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich mich sicher für die Sechs plus entschieden. Die Sechs plus ist keine Sieben und schon gar keine Zehn, aber sie ist eine Zahl weit weg von der Eins. Sie ist besser als ein unfreiwilliger Aufenthalt in einer Klinik und wesentlich besser als zwei übel zugerichtete Leichen.
Ich griff zum Hörer.
»Ja, bitte.«
Keine Antwort.
»Sie haben mir die Sieben versaut und Sie sind gerade dabei, die Sechs plus auf unter Fünf zu drücken. Sie dürfen sich gratulieren. Sie haben einen perfekten Tag ziemlich rüde ruiniert. Sozusagen in allerletzter Sekunde.«
Draußen setzten die Kirchenglocken ein. Mitternacht. Der Geist im Telefon rührte sich nicht.
»Ich zähle bis acht. Dann lege ich auf. Eins, zwei, drei …«
»Bitte legen Sie nicht auf.«
Es war die Stimme einer Frau. Dem Klang nach lag ihr Alter klar unter 40, vielleicht sogar unter 30.
»Ich brauche Hilfe«, sagte die Stimme.
»Brauchen wir die nicht alle? Auf Wiederhören.«
»Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Der Chor sang jetzt sein ›Agnus dei ‹. Karajan tobte.
»Es ist kurz nach Mitternacht, eine etwas ungewöhnliche Zeit für einen Hilferuf. Finden Sie nicht?«
»Hören Sie gerade das Requiem d-Moll?«
»Was?«
»Sie sind allein.« Es war keine Frage, eher eine Feststellung. Scheinbar kannte sie sich in solchen Dingen aus.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich fürchtete schon, ich würde stören.«
»Ach …«
»Ich habe Geld gefunden.«
»Gratuliere!«
»Sehr viel Geld.«
»Ich bin Privatdetektiv, kein Anlageberater.«
»Ich weiß.«
»Möchten Sie Begleitschutz für Ihren schweren und gefährlichen Gang zum Fundbüro? Termine bitte über meine Sekretärin …«
»Hören Sie …«
Sie ging tapfer über meine Unhöflichkeiten hinweg. Langsam wurde es interessant.
»… Ich habe es nicht irgendwo gefunden. Ich habe es bei mir zu Hause gefunden. Unter dem Bett.«
»Sie haben … Sie haben viel Geld unter Ihrem Bett gefunden. Und deshalb rufen Sie mich an? Sie sollten lieber Ihre Freunde und einen Cateringservice anrufen. Veranstalten Sie eine anständige Party. Lassen sie es richtig krachen. Aber bitte denken Sie an die Nachbarn.«
Ich dachte kurz an meine Nachbarn, ließ allerdings sogleich wieder davon ab. Es war zu deprimierend. Der Innenminister sprach von der Erblast der Proletarisierung. Die innerhäuslichen Umgangsformen schienen ihm recht zu geben.
Sie sagte: »Würden Sie mir bitte zuhören!«
Ich sagte: »Aber ja. Nur
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