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Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]

Titel: Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2] Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feucht Wanger
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beugt, streckt, papageienhaft krächzend. So saß er vor der Vernunft der jungen Leute in sicherer, sanfter Verstocktheit, und ohne Vorwurf, nachdenklich, sagte er zu seinem Neffen Heinrich: »Ich glaube, Ihr habt vor lauter Vernunft das Hassen verlernt.«
    Heinrichs Knabengesicht lief rot an. Die ganze zarte, braune Haut seines breiten, großen Kopfes war durchrötet. Der dachte, wie er die Anzeige gegen Rittersteg geschrieben hatte, er dachte an den Wald bei Teupitz, an den ganz dünnen Mond, wie er Werner den Kopf in die feuchte Erde gedrückt hatte und wie er alles nur halb getan hatte, weil sein Haß nicht zureichte. Er schaute zornig aus und verlegen. »Ich bin doch nicht aus Holz«, sagte er schließlich. Aber, nach einem winzigen Schweigen, »deshalb würde ich doch die Hand ausstrecken und ›Heil Hitler‹ rufen«, beharrte er. »Sure«, versicherte er. »Zehnmal würde ich es tun.« Und der neunzehnjährige Pierre Tüverlin, mit seiner gequetschten Stimme, schloß die Debatte ab: »Es hat keinen Sinn, auf das Gefühl der Menschen durch schöne Reden und Gesten einwirken zu wollen. Ändert die Voraussetzungen, und ihr ändert die Menschen. Nicht umgekehrt.« – »Yes Sir«, sagte der siebzehnjährige Heinrich. Dann zahlte Gustav Kaffee, Brötchen und Zigaretten der beiden Jungens, und sie gingen.
    Gustav packte am gleichen Abend alles ein, was er noch bei sich hatte, auch Bilfingers Dokumente und jenen Stoß Privatkorrespondenz mit der Mahnkarte, und schickte das ganze nach Lugano, es bei seinem Schwager unterzustellen. Dann, mit einem listigen Lächeln, zog er den grauen Anzug an, den Herr Georg Teibschitz ihm geschenkt hatte.
    Es war ein strahlender Tag, als der Mann mit dem Paß Georg Teibschitz die Grenze passierte, ein schwerer, träger, freundlicher Mensch in einem grauen, abgetragenen Anzug, einen verbrauchten, kleinen Koffer in der Hand.
    Er trieb sich herum, in Süddeutschland zunächst, im Badischen, im Schwäbischen, in kleinen Städten, Dörfern, der Kaufmann Georg Teibschitz, der es, eine Zeitlang selbständig, zu viel Geld gebracht, der später im Dienst anderer gearbeitet hat und der im Augenblick allerdings stellenlos war. Er hatte gute Papiere, der Mann in Bandol hatte ihm noch mehr Legitimationen gegeben; er konnte belegen, was er sagte.
    Er war ohne Hast. Er atmete deutsche Luft, sah deutsches Land, hörte deutsche Stimmen, schwamm in einem sanften, großen Glück wie in einem weiten Meer. Er ging durch die Straßen, fuhr über Land in diesem wunderschönen Frühsommer, atmete, schaute. Er war in diesen Tagen einverstanden mit sich und seinem Schicksal wie niemals vorher. Leben floß dahin, ruhig, gleichmäßig, stark wie immer, er ließ sich tragen.
    Allein gerade, weil die atmende Ruhe und Ordnung dieses Deutschland ihn sogleich einspann, weil er sich mit der Bewegung der andern bewegte, die Gedanken der andern zu denken begann, spürte er doppelt die Gefährlichkeit dieser falschen Ruhe, die Notwendigkeit, aufzuzeigen, was für ein frecher Schwindel diese Scheinordnung war.
    Langsam begann er seine Tätigkeit. Daß er in diesen letzten Wochen dort unten am südlichen Meer soviel mit Fischern, Autobusschaffnern, kleinen Leuten jeder Art geschwatzt hatte, half ihm jetzt. Er ließ sich in langatmige Gespräche einmit Kleinbürgern, Bauern, Arbeitern. Ihre Privatdinge versteckten die Leute nicht vor ihm; sowie er aber von Politik anfing, sperrten sie sich zu. Es war eine gute Zeit, zu schweigen. Dennoch gelang es ihm, den einen oder andern zum Reden zu bringen.
    Er war enttäuscht. Die Bilder, die in ihm nach den Erzählungen Frischlins, Bilfingers, Teibschitz’ aufgestiegen waren, hatten Wildheit und Farbe gehabt: die Wirklichkeit sah grau und nüchtern aus. Die Untaten der Landsknechte nahm man achselzuckend hin. Daß die Völkischen Schweinehunde sind, das sind olle Kamellen. Da braucht keiner herzukommen, einem das zu sagen. Daß man die Eingesperrten schlug, daß man ihr schmales Essen verpfefferte und ihnen für ihren Durst kein Wasser gab, daß man sie zwang, sich gegenseitig mit ihrem eigenen Kot zu beschmieren, gegen solche Berichte war man abgestumpft. Was einen erregte, war die Frage, wie man mit den immer knapperen Groschen auch nur die äußerste Notdurft stillen konnte. Nicht die Barbarei der Völkischen war den Massen das Problem, sondern der Zwang, mit den zwei Groschen weniger auszukommen, die sie einem jetzt auch noch abgezogen haben.
    Ab und zu, in Caféhäusern,

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