Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
Als Dr. Gustav Oppermann an diesem 16. November, seinem fünfzigsten Geburtstag, erwachte, war es lange vor Sonnenaufgang. Das war ihm unangenehm. Denn der Tag wird anstrengend werden, und er hatte sich vorgenommen, gut auszuschlafen.
Von seinem Bett aus unterschied er ein paar karge Baumwipfel und ein Stück Himmel. Der Himmel war hoch und klar, kein Nebel war da wie sonst oft im November.
Er streckte und dehnte sich, gähnte. Riß, nun er einmal wach war, mit Entschluß die Decke des breiten, niedrigen Bettes zurück, schwang elastisch beide Beine heraus, stieg aus der Wärme der Laken und Decken in den kalten Morgen, ging hinaus auf den Balkon.
Vor ihm senkte sich sein kleiner Garten in drei Terrassen hinunter in den Wald, rechts und links hoben sich waldige Hügel, auch jenseits des ferneren, baumverdeckten Grundes stieg es nochmals hügelig und waldig an. Von dem kleinen See, der unsichtbar links unten lag, von den Kiefern des Grunewalds wehte es angenehm kühl herauf. Tief und mit Genuß, in der großen Stille vor dem Morgen, atmete er die Waldluft. Fernher kam gedämpft das Schlagen einer Axt; er hörte es gern, das gleichmäßige Geräusch unterstrich, wie still es war. Gustav Oppermann, wie jeden Morgen, freute sich seines Hauses. Wer, wenn er unvorbereitet hierher versetzt wurde, konnte ahnen, daß er nur fünf Kilometer von der Gedächtniskirche entfernt war, dem Zentrum des Berliner Westens? Wirklich, er hat sich für sein Haus den schönsten Fleck Berlins ausgesucht. Hier hat er jeden nur wünschbaren ländlichen Frieden und dennoch alle Vorteile der großen Stadt.Es sind erst wenige Jahre, daß er dies sein kleines Haus an der Max-Reger-Straße gebaut und eingerichtet hat, aber er fühlt sich verwachsen mit Haus und Wald, jede von den Kiefern ist ein Stück von ihm; er, der kleine See und die sandige Straße dort unten, die glücklicherweise für Autos gesperrt ist, das gehört zusammen.
Er stand eine Weile auf dem Balkon, den Morgen und die vertraute Landschaft ohne viel Gedanken einatmend. Dann begann er zu frösteln. Freute sich, daß er bis zu seinem täglichen Morgenritt noch eine kleine halbe Stunde Zeit hatte. Kroch zurück in die Wärme seines Bettes.
Allein er fand keinen Schlaf. Dieser verdammte Geburtstag. Es wäre doch klüger gewesen, er wäre von Berlin fortgereist und hätte sich dem ganzen Trubel entzogen.
Nun er einmal hier war, hätte er wenigstens seinem Bruder Martin den Gefallen tun können, heute ins Geschäft zu gehen. Die Angestellten, wie sie schon sind, werden gekränkt sein, daß er ihre Glückwünsche nicht persönlich entgegennimmt. Ach was. Es ist zu ungemütlich, dazuhocken und sich die verlegenen Glückwünsche der Leute anzuhören.
Ein richtiger Seniorchef müßte so was freilich in Kauf nehmen. Seniorchef. Quatsch. Martin ist nun einmal der beßre Geschäftsmann, von Schwager Jacques Lavendel und den Prokuristen Brieger und Hintze ganz zu schweigen. Nein, es ist schon richtiger, daß er sich dem Geschäft so fern wie möglich hält.
Gustav Oppermann gähnt geräuschvoll. Ein Mann in seiner Situation hätte eigentlich die verdammte Pflicht, an seinem fünfzigsten Geburtstag besser aufgelegt zu sein. Sind diese fünfzig Jahre nicht gute Jahre gewesen? Da liegt er, Besitzer eines schönen, seinem Geschmack angepaßten Hauses, eines stattlichen Bankkontos, eines hochwertigen Geschäftsanteils, Liebhaber und geschätzter Kenner von Büchern, Inhaber des Goldenen Sportabzeichens. Seine beiden Brüder und seine Schwester mögen ihn, er hat einen Freund, dem er vertrauen kann, zahllose erfreuliche Bekannte, Frauen, sovieler will, eine liebenswerte Freundin. Was denn? Wenn einer Ursache hat, an einem solchen Tag guter Laune zu sein, dann er. Warum, verflucht noch eins, ist, er’s nicht? Woran liegt es?
Gustav Oppermann schnaubt verdrießlich, wirft sich auf die andere Seite, klappt entschlossen die schweren Lider über die Augen, hält den großen, fleischigen, männlichen Kopf unbewegt auf dem Kissen. Er wird jetzt schlafen. Aber der ungeduldige Entschluß nützt nichts, er findet keinen Schlaf.
Er lächelt spitzbübisch, jungenhaft. Er wird es mit einem Mittel versuchen, das er seit seiner Jugend nicht angewandt hat. Es geht mir gut, besser, am besten, denkt er. Und immer wieder mechanisch: Es geht mir gut, besser, am besten. Wenn er das zweihundertmal gedacht hat, wird er eingeschlafen sein. Er denkt es dreihundertmal und ist nicht eingeschlafen. Dabei geht es ihm
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