Die Geschwister Oppermann - Wartesaal-Trilogie: [2]
doch wirklich gut. Gesundheitlich, wirtschaftlich, seelisch. Er hat, das darf er wohl sagen, mit seinen fünfzig Jahren das Aussehen eines frühen Vierzigers. Und so fühlt er sich. Er ist nicht zu reich und nicht zu arm, nicht zu weise und nicht zu töricht. Leistungen? Der Dichter Gutwetter wäre nie durchgedrungen ohne ihn. Das ist schon einiges. Auch dem Dr. Frischlin hat er auf die Beine geholfen. Was er selber publiziert hat, die paar Schriften über Männer und Bücher des achtzehnten Jahrhunderts, es sind saubere Bücher eines musischen Menschen, nicht mehr, er macht sich nichts vor. Immerhin, für den Seniorchef eines Möbelhauses ist es allerhand. Er ist ein Mann mittleren Formats, ohne besondere Begabung. Das Mittlere ist das Beste. Er ist nicht ehrgeizig. Oder doch nicht sehr.
Noch zehn Minuten, dann endlich kann er sich für den Morgenritt fertigmachen. Er malmt ein wenig mit den Zähnen, er hat die Augen geschlossen, aber er denkt nicht mehr an Schlaf. Um ganz ehrlich zu sein, es bleibt ihm natürlich noch allerhand zu wünschen. Wunsch eins: Sybil ist eine Freundin, um die viele ihn mit Recht beneiden. Die schöne, gescheite Ellen Rosendorff mag ihn lieber, als er um sie verdient. Trotzdem: wenn heute ein bestimmter Brief einer bestimmten Personnicht einträfe, es wäre ihm eine arge Enttäuschung. Wunsch zwei: er rechnet natürlich nicht damit, daß der Minerva-Verlag über seine Lessing-Biographie mit ihm Vertrag schließt. Es ist auch nicht wichtig, ob in Zeitläuften wie den jetzigen Leben und Werk eines Autors, der vor hundertfünfzig Jahren gestorben ist, noch einmal beschrieben wird oder nicht. Aber wenn der Minerva-Verlag das Buch ablehnt, wird es ihm dennoch einen Stich geben. Wunsch drei: …
Er hat die Augen aufgeschlagen, es sind braune, tiefliegende Augen. Er scheint doch nicht so zufrieden, so einverstanden mit dem Schicksal, wie er vor kaum einer Minute geglaubt hat. Senkrechte, scharfe Furchen über der kräftigen Nase, die dichten Brauen heftig zusammengezogen, starrt er angestrengt, finster, zur Decke. Merkwürdig, wie sein starkes Gesicht sogleich jede Wendung des ungeduldigen, oft wechselnden Sinnes widerspiegelt.
Er hat, wenn die Minerva-Leute den Lessing machen, mit der Fertigstellung noch mehr als ein Jahr zu tun. Machen sie ihn nicht, dann sperrt er das Manuskript, wie es ist, in die Schublade. Was dann soll er den Winter über tun? Er könnte nach Ägypten gehen, nach Palästina. Das hat er seit langem vor. Ägypten, Palästina muß man gesehen haben.
Muß man wirklich?
Quatsch. Wozu sich den schönen Tag mit solchen Betrachtungen verhunzen? Es ist gut, daß es endlich Zeit zum Morgenritt ist.
Er geht durch den kleinen Torgarten der Max-Reger-Straße zu. Sein Körper ist ein wenig füllig, aber gut trainiert, er geht mit steifen, raschen Schritten, mit ganzer Sohle auftretend, aber er trägt den schweren Kopf leicht. Der Diener Schlüter steht am Tor, gratuliert. Auch Bertha, Schlüters Frau, die Köchin, läuft heraus und gratuliert. Gustav, das Gesicht strahlend, dankt laut, herzlich, unter vielem Gelächter. Reitet fort. Er weiß, jetzt stehen sie, schauen ihm nach. Sie können nur konstatieren, daß er sich verdammt gut hält für einen Fünfziger. Er sieht übrigens zu Pferd besonders gut aus,größer, als er in Wirklichkeit ist; denn er ist ein bißchen kurzbeinig, aber von langem Oberkörper. Wie Goethe, pflegt sein Freund aus dem Bibliophilenverein, der Rektor François vom Königin-Luise-Gymnasium, mindestens einmal alle vier Wochen zu bemerken.
Gustav trifft unterwegs manche seiner Bekannten, grüßt mit fröhlichem Handwinken, hält sich nicht auf. Der Ritt tut ihm gut. Er kommt angeregt zurück. Sich abbrausen und baden ist eine herrliche Sache. Er brummt vergnügt und falsch einige nicht ganz leichte Melodien vor sich hin, prustet mächtig unter der Dusche. Frühstückt reichlich.
Er geht hinüber in das Bibliothekzimmer, durchquert es einige Male mit seinem steifen, schnellen Schritt, mit ganzer Sohle auftretend. Freut sich des schönen Raumes und seiner sinnvollen Einrichtung. Setzt sich endlich an den mächtigen Arbeitstisch. Die weiten Fenster bilden kaum eine Trennung von der Landschaft, er sitzt wie im Freien, und vor ihm, ein dicker Haufe, liegt seine Morgenpost, die Geburtstagspost.
Gustav Oppermann sieht seine Post immer mit einer kleinen, freudigen Neugier. Man hat, von früher Jugend an, viele Antennen in die Welt hinausgestreckt: wie reagiert
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