Die Gespenstergruft
wir es gewohnt sind. Hinter ihnen steckt viel mehr. Wir leben ein anderes Leben, befinden uns dabei aber noch innerhalb der menschlichen Gemeinschaft, obwohl wir durch unser Aussehen deklarieren, daß wir letztendlich außen vorstehen. Uns geht es um eine Ideologie, es geht uns um das Leben und um den Tod. Wir haben für uns herausgefunden, daß das Leben auf diesem Planeten einfach nicht das höchste Gut sein kann. Dafür ist er zu stark ausgebeutet worden und wird auch noch immer ausgebeutet. Wir wissen oder hoffen zumindest, daß es im Jenseits eine bessere Welt gibt, daß es den Toten bessergeht als den Lebenden, und wir wollen auf die andere Welt gut vorbereitet sein. Deshalb zieht es uns zu den Grabstätten, wo wir in uns gehen und immer wieder nachdenken. Die Welt ist für uns das Meer der Tränen, aber nicht für die Satanisten. Hinter ihnen steht der Teufel, sie gehorchen den Mächten der Hölle, sie dienen dem Bösen. Sie suchen nach keiner besseren Welt, sie sind gegen die Menschen, sie wollen sie in ihren Bann ziehen und dem Bösen zuführen. Wir nicht, aber wir sollten trotzdem versuchen, es zu verhindern. Wenn wir sie stoppen und dabei unser Leben verlieren, haben wir es für eine gute Sache getan, wie ich finde. Oder ist jemand anderer Ansicht von euch?«
Nein, es war keiner einer anderen Ansicht. Sady entnahm es ihrem gemeinsamen Kopfschütteln.
»Dann kann ich beruhigt sein.«
»Wie willst du es denn anfangen?« fragte Creel und strich mit den Fingerspitzen über seine Lippen.
»Wir werden uns dem Ziel nähern.«
»Offen?«
»Nein, wir werden es versteckt versuchen.«
»Sie werden uns entdecken.«
Sady hob die Schultern. »Das müssen wir in Kauf nehmen, obwohl ich mir noch nicht so sicher bin.«
Ein schwacher Windzug huschte über den Platz. Er bewegte Janinas Schleier und wehte ihn wieder vor ihr blasses Gesicht. Sie schob ihn rasch zurück.
»Woher nimmst du diesen Optimismus, Sady?«
»John Sinclair!« Sie ließ die beiden Worte wirken. Erst als niemand etwas darauf sagte, fuhr sie fort. »Er hat das Foto gesehen. Wir können ihm und seinem Freund durchaus zutrauen, daß auch sie beide die alte Gruft finden werden. Und sie werden sich auf die Spur der Satanisten setzen, davon bin ich einfach überzeugt. Sie sind raffiniert, sie können logisch denken, sie werden bald herausgefunden haben, wer das Foto geschossen hat, und sie werden sich mit diesem Mann in Verbindung setzen, das könnt ihr mir durchaus abnehmen.«
»Dann finden sie auch die Gruft«, sagte Ricardo, der Junge mit dem unterbrochenen Rasenschnitt.
»Vielleicht noch vor uns«, flüsterte der letzte im Bunde. Er war der jüngste aus ihrer Reihe, trug das dunkle Haar im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und hatte sein Gesicht mit schwarzen Kreuzen bemalt. Er hieß oder nannte sich Maine, weil seine Eltern aus diesem Staat der USA stammten. Er war so blaß, daß er schon krankhaft wirkte. Seine Augen besaßen einen unruhigen Blick.
Sady lächelte. Sie alle hofften, daß trotz ihres Entschlusses oder Mutes der Kelch noch einmal an ihnen vorübergehen würde. Auch Sady dachte so, aber sie konnte es nicht laut aussprechen, denn gerade sie war es, die Mut zeigen mußte.
»Wir werden unseren Freund aus der Gespenster-Gruft herausholen, was immer auch geschehen sein mag. Ich hoffe dabei, daß wir ihn lebendig finden, doch auch als Toter soll sein Körper nicht den Kräften der Hölle überlassen bleiben.«
Vier Grufties nickten.
»Sollen wir dann gehen?« fragte Janina.
»Ja.«
Maine, der diesen Friedhof noch nicht kannte, wollte wissen, wie weit es noch war.
»Nur ein paar Minuten«, erwiderte Sady. Sie setzte sich auch an die Spitze der kleinen Gruppe, die im Gänsemarsch diesen geschützten Ort am Wasserbecken verließ und zunächst einmal den Weg nahm, den sie auch gekommen waren.
Allerdings nur bis zu einer schmalen Kreuzung. Hier blieben sie stehen.
Sady drehte ihren Kopf nach rechts. Mit dieser Bewegung machte sie den anderen klar, in welche Richtung sie zu gehen hatten.
Dort verdichtete sich das Strauchwerk noch stärker. Obwohl die Dunkelheit des Abends noch nicht hereingebrochen war, lag der schmale Pfad im Schatten.
Hohe Laubbäume bildeten natürliche Dächer, unter denen die Luft schwer und wabernd lagerte. Insekten turnten und flirrten an ihren Gesichtern vorbei. Es roch feucht nach Erde, Laub und verblühten Pflanzen. Sie schauten aus den Öffnungen der Vasen, die auf den Gräbern ihre Plätze
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