Die gestohlene Zeit
meinem Gesicht einen möglichst erstaunten Ausdruck zu verleihen. Reflexartig drehten die beiden Jungs die Köpfe um. Blitzschnell schnappte ich mir das Käsebrot aus Franks Hand und verstaute es sicher in meinem Rucksack. Hatte ich es nicht gesagt? Dick und Doof.
»So, und nun ist ein für alle Mal Schluss mit dem Theater. Ich lasse mich von euch nicht andauernd provozieren. Entweder ihr benehmt euch, oder ich sorge dafür, dass ihr vorzeitig nach Hause fahrt! Vielleicht erklären euch eure Eltern dann mal die Grundregeln von Höflichkeit und Respekt!«
Udos Mund verzerrte sich zu einem gemeinen Grinsen. »Wenigstens habe ich noch Eltern. Was man ja wohl nicht von allen hier behaupten kann. Was war es bei Ihrem Vater,
Fräulein Wiltenberg?
Alk am Steuer, oder war er einfach zu blöd zum Lenken?«
Ich spürte, wie sich meine Brust in einem krampfhaften Atemzug verengte. Woher wusste Udo von meinen Eltern? Gleich darauf fiel mir ein, dass ich erst vor zwei Tagen mit Spindler über sie geredet hatte. Udo musste uns belauscht haben. Das war typisch für ihn. Er war einer derjenigen, die immer dort auftauchten, wo sie nichts zu suchen hatten, und Dinge hörten, die sie nichts angingen. Ich wollte ihm eine möglichst coole Antwort geben, aber mein Hals war wie zugeschnürt. Sein fieser Spruch hatte unter die Gürtellinie gezielt, mich stattdessen aber mitten ins Herz getroffen. Denn mit Caro teilte ich nicht nur alle Geheimnisse, sondern auch dasselbe Schicksal: Wir hatten beide keine Eltern mehr. Und das Internat war genau genommen ein Waisenhaus, es wurde nur nicht so genannt. Meistens vermisste ich meine Eltern kaum, weil ich mich nicht an sie erinnern konnte. Die Geborgenheit einer Familie stellte ich mir schön vor, aber weil ich sie nie bewusst erlebt hatte, fehlte mir auch nichts. Das behauptete ich jedenfalls immer, wenn mich jemand nach meinen Eltern fragte.
Eigentlich hatten sie vor neunzehn Jahren nur ein paar Weihnachtseinkäufe machen wollen. Doch auf dem Heimweg hatte sich ein Lkw, dessen Reifen geplatzt war, quer über die Straße und in den Wagen meiner Eltern geschoben. Sie waren beide sofort tot gewesen. Da war ich gerade zwei Jahre alt geworden und an diesem verhängnisvollen Nachmittag in der Obhut einer Nachbarin geblieben.
Weil es keine nahen Verwandten gab und meine Großeltern ebenfalls schon verstorben waren, kam ich in eine »betreute Einrichtung«, wie es netterweise genannt wurde.
Nur ein paar Fotos waren mir geblieben, auf denen eine junge Frau mit lockigen, roten Haaren zärtlich ein kleines, weißes Bündel an sich drückte, während ein hochgewachsener blonder Mann stolz daneben stand. Die Bilder waren direkt nach meiner Geburt aufgenommen worden, und meine Eltern lächelten in die Kamera. Sie konnten sich wohl nichts Schöneres vorstellen als ein Leben zu dritt. Aber genauso abrupt wie der Reifen des Lastwagens waren an diesem 23 . Dezember auch all ihre Pläne und Träume geplatzt.
Caro wusste, wie es sich anfühlte, ohne Familie aufzuwachsen. Sie war gerade in den Kindergarten gekommen, als ihre Mutter mit vierunddreißig Jahren an einem unentdeckten Herzfehler starb. Sie hatte ihre Tochter alleine aufgezogen, und weil in der Geburtsurkunde nur »Vater unbekannt« stand, konnte man ihn nicht ausfindig machen.
Caro und ich hatten unsere Kindheit in verschiedenen Pflegefamilien verbracht. Aber in meiner wurde die Mutter vor acht Jahren schwer krank und konnte sich nicht mehr um mich kümmern. Bei Caro waren es ihr Dickschädel und die Art, Anweisungen, die sie nicht einsah, zu ignorieren, die sie schlussendlich zurück in unsere Einrichtung und direkt in unser Zweibettzimmer führten. Wenn wir ehrlich waren, fühlten wir uns miteinander sowieso wohler als bei Eltern und Geschwistern, die nicht unsere waren, und in einem Zuhause, in dem sich jede von uns oft vorgekommen war wie ein Spatz unter lauter Kanarienvögeln.
»Waisenhaus«, hatten damals viele aus meiner Klasse getuschelt und sich das immer ganz schrecklich vorgestellt. Sie hatten gedacht, wir würden um vier Uhr früh aufstehen müssen, nichts als trockenes Brot zu essen bekommen und für jedes kleine Vergehen Prügel beziehen. Das war natürlich Unsinn. Zwar hatte es feste Regeln gegeben, was Aufstehen und Nachtruhe betraf, oder wie lange man wegbleiben durfte, aber in welcher Familie gab es die nicht? Zudem waren unsere Betreuer teilweise lockerer drauf gewesen als die Väter und Mütter mancher unserer Mitschüler.
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