Die gestohlene Zeit
auseinander. Ich versuchte, genau wie das Wesen vorhin, ihn gegen das Schienbein zu treten, aber diesmal wich er aus, und ehe ich michs versah, hatte er mir den Ring entwunden.
»Boah, Wahnsinn«, ließ sich Frank vernehmen, als Udo den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und die Strahlen der späten Nachmittagssonne das Metall aufschimmern ließen wie goldene Glut. »Komm, jetzt ist gut. Gib ihn wieder her, und ich bringe ihn zur Poli…«
Ich brach ab, weil ich den Ausdruck in seinem Gesicht sah. Udo schien mich überhaupt nicht zu hören. Blind und taub für alles, was um ihn herum geschah, starrte er auf den funkelnden Ring, den er so fest hielt, dass seine Fingerkuppen weiß wurden. Sein Atem ging schwer, als hätte er gerade einen Hundertmeter-Sprint hinter sich. Ob er die verführerische Stimme des Goldes auch hören konnte, so wie ich vorhin?
»Lass mich auch mal sehen«, drängte Frank und angelte nach der Kostbarkeit. Mit einer Schnelligkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, zog Udo blitzschnell den Ring aus Franks Reichweite. »Der wird nicht zu den Bullen gebracht«, bestimmte er.
»Hör mal, der Ring gehört uns nicht. Und überhaupt hast du hier gar nichts zu entscheiden. Ich habe ihn gefunden, ich bin hier die Aufsichtsperson, und ich werde dafür sorgen, dass derjenige, dem er gehört, ihn wiederbekommt«, widersprach ich. Doch Udo sah mich nur mit einem Grinsen an, das mich eher an das Zähnefletschen eines in die Enge getriebenen Straßenkaters erinnerte. »Dazu müssen Sie sich den Ring aber erst mal holen«, knurrte er und machte Anstalten, das Schmuckstück in seiner Tasche verschwinden zu lassen. Heiße Wut durchzuckte mich. Der Ring gehörte mir! »Gib ihn her«, rief ich und packte nun meinerseits Udo am Handgelenk. Mit einem Ruck riss der kräftige Junge sich los und versetzte mir gleichzeitig einen heftigen Schubs gegen das Schlüsselbein. Der Stoß ließ mich zwei Schritte zurücktaumeln, und ich stolperte über einen am Boden liegenden Stein. Heftig mit den Armen rudernd suchte ich nach Halt, fand aber keinen. Stattdessen kippte ich rückwärts, direkt auf den Findling, der hinter mir aufragte. Ich spürte einen dumpfen Schlag, als mein Hinterkopf gegen den harten Fels knallte, und ein scharfer Schmerz schoss durch meinen Schädel. Meine Beine sackten unter mir weg, und ich rutschte mit dem Rücken an dem Felsen entlang nach unten. Mir war übel, und alles schien zu schwanken. Nur schemenhaft sah ich Franks erschrockenes Gesicht und Udo, der sich zu mir herunterbeugte.
»Wenn Sie jemandem von dem Ring erzählen, mach ich Sie fertig«, zischte er, doch seine Stimme schien von weit her zu kommen. Mein Kopf dröhnte, schwarze Kreise tanzten vor meinen Augen. Nur verschwommen nahm ich Udos Stimme wahr, die rief: »Los, wir hauen ab!«
Ich wollte aufstehen, doch eine Welle der Übelkeit schoss in mir hoch, und ich spürte einen brennenden Schmerz am Hinterkopf. Stöhnend fasste ich mit der Hand an die pochende Stelle und spürte etwas Warmes, Klebriges zwischen meinen Haarsträhnen. Ich zog die Hand zurück. Meine Fingerspitzen waren rot von frischem Blut. Ein Würgereiz stieg in meiner Kehle auf, und ich hatte das Gefühl, in einem sich immer schneller drehenden Kettenkarussell zu sitzen. Ich wollte um Hilfe rufen, doch bevor ich noch einen Laut herausbrachte, fiel eine bodenlose Schwärze auf mich herab und begrub mich unter sich.
Langsam kam ich zu mir und blinzelte. Ich lag auf dem Rücken und wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Die Sonne hing wie ein reifer, orangegoldener Pfirsich knapp über den Berggipfeln, und ein hauchdünner, taubenblauer Schleier breitete sich allmählich über die schroffe Steinlandschaft und kündigte die nahende Dämmerung an. Mir war schlecht, aber der heftige Schwindel hatte sich etwas gelegt, und auch mein Kopf schien nicht mehr bei jeder kleinsten Bewegung zerspringen zu wollen.
Ich rollte mich auf die Seite und dann auf die Knie. Langsam zog ich mich an dem scharfkantigen Felsen hoch, gegen den ich vorhin gefallen war, und kam schließlich schwankend zum Stehen. Tief durchatmend blickte ich mich um. Ich musste ins Tal oder wenigstens zu der Gruppe zurück, ehe es dunkel wurde. Ob man mich schon vermisste? Oder suchte? Udo hatte garantiert keinen Ton über meinen Sturz verlauten lassen, geschweige denn, wie es dazu gekommen war. Und Frank war viel zu feige, um ihn zu verpetzen. Also musste ich alleine versuchen, die Teilnehmer der
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