Die Gewandschneiderin (German Edition)
steinernen Kirchen, die in den umliegenden Dörfern gebaut wurden, waren beeindruckend, aber die Mehrzahl der Kirchgänger verlangte möglichst rasch ein schützendes Dach über dem Kopf. Gesättigt und froh über ihr erstes eigenes Feuer, hätte Anna am liebsten mit ausgebreiteten Armen Kreise auf dem Weg gedreht, wie sie es als kleines Mädchen getan hatte. Doch sie nahm sich zusammen, nickte und grüßte die Arbeiter, die sich sämtlich zum Kirchgang eingefunden hatten. Erst als ihr Vater sich suchend umblickte, bemerkte Anna, dass Arnulf wieder fehlte.
„Meinst du, seiner Frau geht es gut?“, fragte Anna.
„Wessen Frau?“, fragte ihr Vater zurück. Er wartete nicht auf die Antwort, sondern starrte zur Seite und trat an den Wegesrand. Ein spitzer Schrei durchdrang den stillen Morgen. Inzwischen hatten sich die Kirchgänger versammelt. Anna reckte den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen. Sie war groß für ihr Alter, deshalb konnte sie sehen, was den Schrei ausgelöst hatte. Mit dem Gesicht nach unten lag eine Gestalt zwischen den gelben Halmen.
Einer der Männer bückte sich und drehte den steifen Leib auf den Rücken. Gebrochene Augen starrten blicklos in den Himmel. Der ausgemergelte Körper wirkte viel zu klein für die Lumpen, in die er gehüllt war, doch die nagelneuen, robusten Lederschuhe schienen zu passen. Es war nicht der erste Tote, den Anna zu Gesicht bekam. Viele Bettler waren allein im letzten harten Winter gestorben. Aber dieser Anblick jagte Anna eiskalte Schauer über den Rücken: Die Hände des Toten umklammerten wie Vogelkrallen je ein abgenagtes Hühnerbein, als hätte der Tote sie dem Teufel persönlich entrissen und wolle sie nie wieder loslassen. Wulf nahm seine Tochter am Arm und zog sie von der Menge weg auf den Weg.
„Komm weiter ! Ich muss vor dem Gottesdienst noch mit Johann sprechen.“
Der dicke Mönch war schnell gefunden, er stand bereits auf der Wiese und sprach mit dem Priester. Anna hatte Johann schon häufiger getroffen. Wie die anderen Klosterbrüder verdingte er sich von Zeit zu Zeit als Lohnschreiber und stellte grobes und feines Pergament her. Die Rußtinte mischte Annas Vater selbst, aber das Kalkbrühen und Abschaben der Tierhäute waren schwierig, deshalb kaufte Wulf das Pergament.
Langsam füllte sich die Wiese, und Anna stellte sich hinter den Vater. So hatte sie einen besseren Überblick und war gewarnt, falls Gilbert auftauchen sollte. Sie hörte nur mit halbem Ohr zu, was der Baumeister mit dem Ordensbruder besprach, bis das Wort Pergament fiel. Die Nachricht! Vielleicht wusste Johann mehr darüber?
„Ja. Der sah aus wie ein Bettler. Aber er hatte genügend im Säckel, um meine Dienste großzügig zu entlohnen“, sagte Johann.
„Trug er neue Schuhe?“, fragte Wulf.
Der Mönch nickte, schüttelte aber gleich darauf empört den Kopf, was ihm das Aussehen eines dicken, nassen Hundes nach dem Bad verlieh.
„Wenn du weißt, wer es war, warum fragst du dann?“
Wulf nahm die Mütze ab, als sei ihm trotz der kalten Luft zu warm geworden. „Hast du dir bei dem Inhalt der Nachricht denn nichts gedacht?“, fragte Wulf.
Der Mönch lächelte sanft. „Als Schreiber bekommt man manch Schlimmes zu Gesicht. Ich habe meine Lektion gelernt - ich schreibe und mische mich nicht ein. Außerdem erwähnte der Bettler nicht, für wen die Nachricht bestimmt war. Er kann noch nicht weit sein, vielleicht findest du ihn und kannst ihn befragen.“
Anna wandte sich um. Alle Gläubigen standen schon ordentlich aufgereiht, der Gottesdienst hatte längst begonnen. Rasch schlüpfte sie in die Lücke zwischen Johann und dem Vater und fragte sich, was das alles zu bedeuten hatte.
Trotz des üppigen Frühmahles war Anna schon wieder hungrig, nachdem der Priester die Messe endlich beendet hatte. Bei dem Gedanken an die fetten Scheiben des Räucherschinkens, den ihr Vater wie jeden Sonntag von der Decke abhängen und in den Eintopf schneiden würde, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Es war kalt, und jedermann hatte es eilig, an die Feuerstelle zu kommen. Anna wusste, dass sie noch ein wenig warten musste. Wie üblich nach dem Gottesdienst würde der Vater einen Rundgang mit ihr machen und ihr die Baufortschritte zeigen wollen. Sie näherten sich der Kirche von der Rückseite. Mit den hohen Bäumen um die Weihestätte herum sah sie von hinten fast schon fertig aus. Einzig der leere Glockenturm und die fehlende Bedachung auf dieser Seite wiesen sie als Rohbau
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