Die Gewandschneiderin (German Edition)
Vater.“
Noch bevor der Vater die Brettertür so fest zugeworfen hatte, dass die Riemen quietschten, war Anna schon vom Schemel aufgestanden. Sie wusste ganz genau wo das Zundertäschchen lag. Zunder, Flint, Feuerstahl, sie musste im Dunkeln nicht einmal suchen. Wenn ich es rasch erledige, schaffe ich es vielleicht, dachte sie. Sie tastete einen sauberen Bereich in der Feuerstelle ab und legte den Zunder darauf. Mit der Linken klaubte sie dürre Äste aus dem Flechtkorb daneben. Wenn der Zunder einmal brannte, musste es schnell gehen. Stahl in die Rechte, wie der Vater es machte, den Flint in die Linke. Es war ganz einfach. Funken schlagen, kurz warten, behutsam blasen.
Die ersten Funken fraßen sich gierig in den Zunder. Anna fuhr hoch und schrie auf. Zitternd rannte sie zu ihrer Bettstatt und sank daneben zu Boden. Eingeklemmt zwischen der lehmbeworfenen Wand und dem rauen Holzgewerk ihres Schlaflagers, entrang sich ihrer Kehle ein trockenes Schluchzen, während sie beobachtete, wie der kleine Zunderhaufen rasch verglomm.
Es war wieder dunkel. Anna versuchte sich zu beruhigen und zwang sich , langsam zu atmen. Ein kleiner Zunderrest schwelte auf und knallte leise. Anna schrie, drehte den Kopf zur Wand und blieb in der Ecke hocken, bis der Morgen graute. Selbst als ihr Vater zurückkam und das Feuer anzündete, rührte sie sich keine Handbreit von der Stelle. Wulf schrie sie nicht mehr an, aber er tröstete sie auch nicht, schaute nicht einmal zu ihr herüber. Er bereitete sich die Eier zu, aß und ging zu Bett.
Anna schlug die Augen auf, ihr erster Blick fiel auf schwelende Glut. Sie war sich nicht sicher, ob sie geschlafen hatte. Hatte ein Nachtmahr sie heimgesucht? Der Vater schlief unruhig und schnarchte laut. Die großen Lücken in der Tür bei den Ziegen ließen kein Tageslicht herein, es war also noch früh. Anna erhob sich mit steifen Knochen, sie konnte kaum stehen. Wenn es ein Nachtmahr gewesen war, wieso lag sie dann nicht im Bett? Sie trat zum Tisch. Die Zundertasche war nicht verschlossen, der Zunder sah feucht aus. Und ein gekochtes Ei lag neben den Schalen weiterer Eier auf dem Tisch. Es war kein Traum gewesen. Anna blickte zum Bett hinüber. Der Vater schlief, und in der Hütte roch es nach Bier. Anna setzte sich auf ihren Schemel und wartete. Heiße Tränen flossen ihr über die kalten Wangen. Und diesmal versuchte sie nicht, ihnen Einhalt zu gebieten.
Mit lautem Grunzen warf sich Annas Vater herum und öffnete die Augen. Es war inzwischen so hell, dass Anna ihn erkennen konnte. Sein weiches weizenblondes Haar, dem ihren so ähnlich, stand in wilden Büscheln ab, die Augen waren verquollen. Dann sprang er auf und stürzte auf sie zu. Sie zuckte zusammen und blickte zu Boden.
„Ich habe es versucht“, stammelte sie. „Ich habe es versucht, aber es ist wieder ausgegangen. Es war an, ganz bestimmt …“
Da packte Wulf Wille seine Tochter, zerrte sie in die Höhe und schloss sie in die Arme. Wie ein Versinkender umklammerte er sie.
„Es tut mir leid, Kind, es tut mir so leid.“
Sein kräftiger Körper bebte, und Anna bekam kaum Luft.
„Vater, nicht so fest!“, keuchte sie.
Wulf gab sie frei und sank schwer auf den Schemel. Er gewahrte das Ei auf dem Tisch, nahm es und reichte es ihr.
„Iss! Auch die dicke Milch. Ich will keine. Du kannst meine Schale haben“, sagte er freundlich, aber bestimmt. „Ich kümmere mich heute um die Ziegen, und du isst. Und dann übst du mit mir zusammen, wie man Feuer macht.“
Anna fühlte sich wie erschlagen, aber sie war auch stolz. Noch vor dem ersten Rufen der Kirchenglocke auf dem Behelfsturm hatte sie es nach etlichen Versuchen endlich geschafft, ein kleines Feuer zu entzünden. Nur ein Gedanke trübte ihr neu gewonnenes Wohlbehagen. Sie wusste immer noch nicht, wie die Nachricht auf dem Pergament gelautet hatte. Sonst las der Baumeister seiner Tochter die erhaltenen Botschaften vor, aber diesmal hatte er auf ihre vorsichtige Bitte hin nur geschwiegen. Sie beschloss, dass es ihr gleich war. Wenn er nur der Wulf blieb, den sie kannte, wollte sie zufrieden sein. Er war alles, was sie hatte.
Die dunklen Schatten auf der Stimmung des Vorabends schienen im hellen Tageslicht des Kirchganges zu bleichen wie fleckige Wäsche in der Sonne. Der Gottesdienst wurde seit dem Kirchenbrand bei jedem Wetter auf der Gemeindewiese vor dem Ort abgehalten. Das war einer der Gründe, warum man sich in Jever für eine Holzkirche entschied en hatte. Die neuen
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