Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten
wozu er sich selbst macht“, erinnerte ihn die Dame an sein bekanntes Dichterwort. „Da schreibt der Mann ein dickes Benimmdichbuch und lebt selbst nicht nach Vorschrift!“ Vertraulich legte die Großmutter dem Dichter eine Hand aufs Knie und versicherte: „Aber diese kleine Schwäche macht Sie mir erst recht sympathisch. Zu Ihnen, lieber Herr, habe ich ab sofort noch mehr Zutrauen.“
Das kann Sie getrost haben, gute Frau, wollte der bronzene Dichter entgegnen, wäre es ihm ausnahmsweise gestattet gewesen, eine Schmeichelei zu erwidern. Doch im nächsten Moment war er erstmals heilfroh, daß ihm sein Bildhauer für die Dauer dieses Tages das Wort entzogen hatte. Das Großmütterchen sagte nämlich: „Pfiffi, Platz!“ und band dem Denkmal ihren mageren Rehpinscher ans Bein. „Schön brav, Mutti ist auf der Stelle zurück!“ Sprach’s und blieb auf zwei Stunden verschollen.
Die mittelgroße Stadt war nun vollends zum Leben erwacht. Aus buntbemalten Haustüren traten Einheimische und Urlauber auf den Markt, begutachteten die Auslagen der Schaufenster, warfen einen flüchtigen Blick auf das Denkmal, reihten sich vor der Konditorei in die Gruppe der Windbeutelabholer ein. Beim elften Schlag der Kirchturmuhr brummte das viermotorige Vormittagsflugzeug über die Rathausspitze. Ein Angestellter der Stadtreinigung entleerte Papierkörbe, in diesem und jenem Fenster wurden Betten gelüftet und Staubtücher ausgeklopft. Eine getigerte Katze sonnte sich in der Dachrinne der Apotheke, der Stadtschornsteinfegermeister turnte geschickt aus einer Luke, der Eismann stellte sein Wägelchen auf und bot stimmgewaltig seine Spezialität an, Zitronen-Blaubeer-Eis.
Kaum daß die über und über mit Netzen, Taschen und Paketen bepackte Oma den Hund abgeholt, dem Dichter dankbar den Arm getätschelt und ihm versprochen hatte, demnächst einmal wieder in seinem Buch zu blättern, kam ein Pärchen dahergeschlendert und baute sich vor dem Denkmal auf.
„Wer sieht besser aus, er oder ich?“ scherzte der junge Mann, wobei er herausfordernd seine Frisur schüttelte, die ganz jener Mode entsprach, die auch der Dichter zeitlebens bevorzugt hatte.
„Wer ist’n das?“ fragte das Mädchen.
„Keine Ahnung“, sagte der junge Mann, „bin dem Emmes hier noch nie begegnet!“ Und er drehte eine Runde um den Bronzenen, in der Hoffnung, irgendwo einen Hinweis zu entdecken. „Also, wer sieht besser aus?“
Der Mann aus Bronze mochte gar nicht hinhören, denn er glaubte sich mühelos ausrechnen zu können, wie die Antwort ausfallen würde. Zu seiner grenzenlosen Überraschung jedoch sagte das Mädchen: „Natürlich er!“
„Und jetzt?“ fragte der junge Mann und band dem wehrlosen Denkmal eine gräßlich gemusterte Krawatte um, die er soeben, der bronzene Dichter hatte es genau beobachtet, aus einem Geschäft mit der Aufschrift Jugendmode mitgebracht hatte.
„Immer noch er“, sagte das Mädchen, lutschte verschmitzt lächelnd an einer Eiswaffel und alberte: „Der Mann ist gewiß ein großer, wenn er hier auf dem Marktplatz steht. Aber an dich reicht er nicht heran. Du bist noch einen halben Kopf größer als er!“ Und das Mädchen quietschte ausgelassen, weil der junge Mann es übermütig in die Hüfte knuffte.
Na, na, na — vor allen Leuten, schickt sich das, dachte der bronzene Dichter, wobei er sich sonderbarerweise mild gestimmt fühlte. Und seine Laune verbesserte sich noch, als das Mädchen fragte: „Wo treffen wir uns morgen?“ und der junge Mann antwortete: „Um die gleiche Zeit beim Emmes!“ und sie darauf meinte: „Man müßte rauskriegen, wer er ist! Und man müßte mal nachlesen, ob er irgend etwas tat, was uns beide angeht. Immerhin ist er der einzige, der ab heute unser Geheimnis teilt: Wir lieben uns.“
Dann legte sich die große Mittagshitze auf den Platz, die Bewohner der mittelgroßen Stadt hielten ein Schläfchen, und auch der Dichter nickte ein wenig ein. Er träumte von einem schneeweißen Marmorsockel. Bronze auf Marmor, das würde ihm gut stehen. Er, der Dichter, hoch über den Leuten, alle blickten ehrfurchtsvoll zu ihm auf! - Alle redeten unter ihm vorbei, und er sah über sie hinweg. Da wurde ihm unbehaglich zumute, und er erwachte.
Bedächtig schob der Briefträger sein gelbes Fahrrad von Tür zu Tür und verteilte Postkarten, Telegramme und Briefe, eine Kindergärtnerin ging mit ihrer Gruppe spazieren, der Eismann hatte seine Mittagspause beendet und pries frische Portionen
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