Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten

Doch er glaubte: Wer des Meisters Handwerk tadelt, wird selbst kaum zum Meister taugen. So urteilte er: „Eine gute Arbeit, Vater, ich sage es mit Respekt, ganz vollkommen und mit Geschick geblasen.“
    Als letzter trat der jüngste Sohn zum Tisch. Er langte nach dem Weinglas, drehte es lange zwischen den Fingern und stellte es endlich behutsam zurück. Es verging abermals viel Zeit, bevor er kaum hörbar sagte: „Verzeih mir, Vater, aber ich kann dem Urteil meiner Brüder nicht zustimmen. Dieses Glas ist krumm und schief, und außerdem sitzt eine Luftblase neben der anderen. Es ist fürwahr kein Meisterwerk. Doch es birgt die Gewißheit — alle Meisterschaft ist erreichbar.“ „Jeder hat die Rede des anderen vernommen“, erklärte der Glasbläser und nahm seine Frau bei der Hand „Wir Alten werden uns ein wenig die Füße vertreten. Ihr seid erwachsene Leute. Beratet und entscheidet selbst, wer künftig hier Meister sein soll.“
    Als die Eheleute ein Stück durch die Glasstadt Weißes Wasser gelaufen waren, blieb die Frau stehen, streichelte ihrem Mann die Schläfen und fragte: „Und was hat dein Vater damals gesagt?“
    „Was schon?“ sagte der Glasmacher verlegen. „Dreizehn rubinrote Weingläser sollte ich blasen. Zwölf davon bekam er zu greifen und hat sie in seinem Zorn gleich aus dem Fenster geworfen.“
    Jene wundersame Geschichte erzählen die Leute.
    Und sie erzählen auch: Nachdem die Eltern das Haus verlassen hatten, herrschte in der Stube betroffenes Schweigen.
    „Wie konntest du unserem Vater so etwas antun?“ nahm der älteste Sohn das Wort. „Auch wenn dies Glas mißlungen ist, einen solchen Abschied, den hat er nicht verdient!“ „Laß den Kleinen in Frieden“, ging der mittlere Bruder dazwischen. „Er ist unser neuer Meister.“

Impressum
    2. Auflage 1985 © DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN - DDR 1983 Lizenz-Nr. 304-270/287/85-(40)
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