Jerry Cotton - 0589 - Ein Toter stellt die Falle
Sechs Jahre gesiebte Luft im kalifornischen Staatszuchthaus Ivy Bliss hatten Helen May nicht gebrochen. Nur ihre Haut war von ungesunder Blässe. Helens Reize schmälerte das nicht. Sie war groß, schlank, jetzt 29 Jahre alt und mit einer aufregenden Figur ausgestattet. Sie besaß harte graue Augen und kupferrotes Haar.
Nach durchfahrener Nacht kam sie morgens gegen halb neun in New York an. Helen nahm ihren Koffer und die abgeschabte Handtasche und stieg aus dem Zug. Auf den unterirdischen Bahnsteigen der Pennsylvania Station hasteten Reisende, lärmten Lautsprecher, Zeitungs- und Proviantverkäufer. Helen drängte sich durch die Menge, fuhr mit einer Rolltreppe hinauf, durchquerte die Bahnhofshalle und trat ins Freie.
New York — das war Heimat. Und die Aussicht, es doch noch zu schaffen.
In langer Reihe warteten die Taxis am Bordstein. Helen stieg in das erste. Houston Street gab sie dem Driver als Ziel an. Sie fuhren den Broadway hinab. Mit weit geöffneten Augen nahm Helen die Bilder auf: die endlose Kette der Fahrzeuge, den Strom der Passanten auf den Gehsteigen, eine bunte Mixtur aller Nationen, die Müßiggänger in den Boulevardcafes, die Pracht in den Schaufenstern.
An der Ecke Houston Street und Broadway stieg Helen aus. Sie bezahlte den Fahrer, gab aber kein Trinkgeld.
Um seine wütenden Blicke kümmerte sie sich nicht. Den Koffer am Griff gefaßt, mit der Tasche schlenkernd, ging sie die östliche Houston Street entlang in Richtung East River.
Helen überlegte. Sie besaß achtzig Dollar. Das reichte nur kurze Zeit. Um ihr Vorhaben auszuführen, brauchte sie Kapital. Auf der Fahrt von Kalifornien hierher hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, wie es zu beschaffen sei.
Sie ging zu »Jimmy’s«, einer billigen Absteige an der Ecke Essex Street und Houston Street. Helen hatte hier früher einige Male gewohnt. Sie trat durch die Tür, von der die Farbe schuppig abblätterte. Im Dämmerlicht des Empfangsraumes hockte ein alter Neger, der vor sechs Jahren noch nicht hier gesessen hatte.
Helen feilschte und brachte es fertig, daß, er den Zimmerpreis um zwei Dollar senkte. Dann mietete sie sich für eine Woche ein, bezahlte im voraus und stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf.
Das kleine Zimmer lag zum Hof. Helen sah sich um, zertrat eine Spinne, die unter dem Bett hervorkroch, und warf ihren Koffer aufs Bett. Die nächste Stunde verbrachte sie damit, sich schön zu machen. Sie hatte es nicht verlernt, auch nach sechs Jahren Zuchthaus nicht.
Kurz vor zehn stieg sie in ihr enges Kleid aus blauer Seide. Es war nicht mehr modern. Aber Helen hatte es in der Zuchthausschneiderei von einer Freundin kürzen lassen. Es endete jetzt oberhalb der Knie. Damit dem Zeitgeschmack angepaßt, konnte sie sich in die Delancey Street wagen, im Vertrauen auf die Wirkung ihrer langen Beine.
Der Himmel schimmerte blau. Kleine Wolken segelten landeinwärts. Schwüle lastete über der Riesenstadt. Helen blieb, nachdem sie die Pension verlassen hatte, vor einer Toreinfahrt stehen. Dann trat sie auf den Hof. Mülltonnen, Gerümpel und Abfälle stapelten sich an den Mauern. Helen blickte sich suchend um. Schon nach wenigen Augenblicken hatte sie das Geeignete gefunden: einen fast faustgroßen Hammerkopf, in dem noch ein Stück vom Holzstiel steckte.
Helen zog den Stielrest heraus, öffnete die Handtasche, nahm ein Taschentuch, wickelte den Hammer darin ein und verstaute ihn neben Puderdose und Kamm.
Vier Minuten später bog sie, von der Essex Street kommend, in die Delancey Street ein. Trotz der Vormittagsstunde herrschte Betrieb. Etwa ein Dutzend Straßenmädchen patrouillierte zwischen Schiff Parkway und Williamsburg Bridge auf und ab.
Mit einem Blick erfaßte Helen, daß sie die Konkurrenz nicht zu fürchten brauchte. Sie sah sich die grauen Hausfassaden an. Pop-Kinos, Kaschemmen, Absteigen, zwei Pfandhäuser, Ramschläden, in denen Hehler schacherten, eine Stehbierhalle: das bestimmte das Bild. Einige Kunden drückten sich herum, verhandelten hier, feilschten dort, gingen weiter, Überdruß in harten, ausdruckslosen Gesichtern. Unter ihnen war keiner, der Helen interessierte.
Er kam zehn Minuten später. Er parkte seinen weißen Cadillac am Ende des Schiff Parkway, stieg aus und näherte sich grinsend.
Der ist nicht viel unter sechzig, konstatierte Helen, aber er hat sich gehalten. Sie knipste ihr Lächeln an und strich sich das Kleid über den Hüften glatt.
Der Mann, Besitzer einer Schokoladenfabrik,
Weitere Kostenlose Bücher