Die Glasprobe und andere zerbrechliche Geschichten
Zitronen-Blaubeer-Eis an. Zwei Studenten saßen auf einer Bank, hatten Gitarren auf den Knien und brachten einander die neuesten Griffe bei. Ein Sperling tobte übermütig tschilpend durch eine lauwarme Pfütze, zwei ältere Damen begutachteten an der Litfaßsäule das Kinoprogramm der Woche, kaum jemand bemerkte, daß das Nachmittagsflugzeug eine halbe Minute Verspätung hatte.
Ein dürrer Mann mit schwarzen Ärmelschonern, der unter jedem Arm einen Aktenstapel trug, stand einen Schritt von dem bronzenen Dichter entfernt. Mal rückte er ein paar Zentimeter vor und ließ die Augen unruhig über den Mann aus Bronze tanzen, dann wieder wich er zurück. Dabei redete er die ganze Zeit auf seinen gutgekleideten Begleiter ein: „Es kann ja wohl nicht angehen, daß dieser hoch-geschätzte Dichter mit Hinz und Kunz auf einer Stufe steht! Nicht wahr, Herr Bürgermeister, das muß geändert werden!“
„Aber mein Lieber, so beruhigen Sie sich doch“, entgegnete dieser und schenkte dem Denkmal einen wohlwollenden Blick. „Zugegeben, das ist ein bißchen ungewöhnlich. Aber es hat auch seine Vorteile. Man bekommt beim Hingucken keinen steifen Hals. Und an Schlechtwettertagen regnet es den Denkmalbeschauern nicht in die Nasenlöcher.“
„Da stellt dieser Mensch den Dichter sang- und klanglos in der Gosse ab!“ eiferte der Dürre. „Ohne Genehmigung! Ohne Stempel! Ohne feierliche Enthüllung!“
„Erstens ist unser schöner Markt keine Gosse“, bemerkte der Bürgermeister entschieden. „Und zweitens, es hat auch seine Vorteile. Man spart sich eine Rede.“
„Wußten Sie eigentlich“, flüsterte der Mann mit den Ärmelschonern dem Bürgermeister in höchster Erregung zu, „daß dieser Dichter sich freier Herr nannte und unentwegt mit der Obrigkeit stritt? Es gab da Gerichtsverhandlungen! Verhaftungen! Verbote! Ich hoffte, diese unangenehmen Dinge würden sich wegspielen. Aber diesem Denkmal sitzt die Aufsässigkeit ja auf der Nasenspitze!“ „Bedaure“, sagte der Bürgermeister kühl und zupfte einen Staubkrümel von seinem Anzug. „Heute wollen noch ein paar andere Dinge erledigt sein. Sorgen Sie dafür, daß unser Denkmal in die Zeitung kommt!... Und bringen Sie gelegentlich ein paar Bücher dieses Mannes in mein Büro.“ „Unser Bürgermeister ist auch nicht mehr, was er einmal war“, wisperte der Dürre, knirschte, als sein Vorgesetzter weit genug entfernt war, vernehmbar mit den Zähnen und stampfte mutig mit dem Fuß aufs Pflaster. „Und auf den Bildhauer sollte man ein Auge haben. Er trägt Unruhe in unser stilles Städtchen.“
Obwohl der bronzene Dichter sich über diese Bestätigung hätte freuen können, spürte er einen bitteren Geschmack im Mund. Irgendwie erinnerte ihn jener dürre, dienernde Aktenträger an Zeitgenossen aus seinem Dichterleben. Und er fragte sich, wie dieses Exemplar so unbehelligt durch die Jahrhunderte gekommen sein mochte.
Kaum war der Störenfried hinter der nächsten Ecke verschwunden, kam eine Reisegruppe lärmend über den Marktplatz gelaufen und brachte den Mann aus Bronze auf andere Gedanken.
Der Reiseleiter wollte gewohnheitsgemäß das Rathaus erläutern, die Leute aber stellten sich in einer Reihe neben dem Bronzedichter auf, um, wie sie sagten, „ein Foto zu machen“. Und so angestrengt der bronzene Dichter rätselte, was wohl damit nun wieder gemeint sei, so eifrig rätselten die Leute über seine Vornamen.
„Hieß er nun Christian Daniel Dagobert?“
„Oder Johann Wolfgang Mike?“
„Oder Gotthold Ephraim Gabriel?“
Der jugendliche Reiseleiter, der jede dieser Fragen als persönlichen Vorwurf empfand, blätterte verzweifelt in seinen Unterlagen.
„Wo der Dichter auf einem Sockel steht, da ist alles fein bequem“, sagte ein Mann, dessen Muskeln fast sein T-Shirt sprengten. „Der Name wird in goldenen Lettern mitgeliefert. Hier jedoch ist man buchstäblich allein gelassen.“
„Es ist das erste Mal in meinem Leben“, versicherte eine mit blitzenden Ohrringen behängte Dame, „daß mir ein Bronzekavalier den Weg verstellt. Und mit welch männlichem Blick! Vielleicht kann man irgendwo ein Buch von ihm kaufen?“
Schließlich hatten alle alle Hände voll zu tun, dem weinenden Reiseleiter für den Rest der Tour Mut zuzusprechen, der bronzene Dichter war wieder mit sich allein.
Schlanke, verästelte Fernsehantennen fingen erste Bilder von einer Sportübertragung ein und lockten die Leute vom Marktplatz fort vor die Fernsehgeräte. Ein
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