Die Godin
Fäule kroch hinter den Stuck der neubarocken Fassaden der Bürgerhäuser, salzige Mineralien sprengten den Verputz von den Hauswänden. Fleckiger Aussatz blühte an den Fundamenten, feuchtschwarzes Moos dehnte sich aus allen Fugen, weitete sich zu flächigen Flechten, zerfraß den Mörtel zu erdiger Konsistenz, bis er dem unablässig rieselndem Regen keinen Widerstand mehr bot. Die unbefestigten Gassen zwischen den ärmlichen Vorstadthütten in Haidhausen und der Au hatten sich längst in schlammige Bahnen gewandelt; erdiger Schmutz und Kot, der aus den überlaufenden Kanälen schwappte, schwemmte über die Dielen in die dämmerigen Wohnhöhlen der Tagelöhner.
Über Wochen hatte sich nichts mehr verändert. Kein Wind war aufgekommen, kein Sturm hatte geklärt. Es regnete. Die Stadt triefte. Alles an ihr rieselte, sickerte, gluckste, und der zementfarbene Himmel erdrückte sie, nahm ihr den Atem. Die Enge der Straßen wurde drängender, die Gemüter trübe. Man hetzte. Es wurde wenig gelacht.
Die Fenster des dichtbesetzten Schwabinger Kaffeehauses waren bedampft. Emil Teobalt starrte auf die blinden Scheiben und nahm die milchigen Umrisse der draußen vorbeieilenden Passanten wahr. Er wandte sich wieder seiner Kaffeetasse zu und rührte gedankenverloren darin.
»Nein«, schüttelte er den Kopf, »das wäre nicht nötig gewesen.«
Kajetan zuckte die Achseln und lehnte sich zurück. »Geschehen ist geschehen.«
»Was ist schließlich dabei herausgekommen? Ich bin entlassen - und Sie auch. Dabei hab ich neulich noch gelesen, daß sie in Amerika schon einen Farbfilm ausprobieren.«
»Tatsach?«
»Ja. Da wird nichts mehr viragiert werden! Da ist das Bild dann, wie die Welt ist. Das Gras grün, die Haut weiß oder braun oder gelb, das Blut rot und…«
»… die Weiber im Schlafzimmer?«
Teobalt lachte. »Stimmt! Wie sind die eigentlich?«
»Kommt drauf an.« Kajetan schmunzelte und hob vielsagend seine dichten Augenbrauen. Teobalt wurde wieder ernst.
»Hätte ich doch bloß mein Maul gehalten«, sagte er müde.
»Hinterher ist man immer gescheiter.« Kajetan nahm einen Schluck aus seiner Tasse.
»Bei mir scheint ja Hopfen und Malz verloren. Aber Sie! Was geht es Sie eigentlich an, wenn ich mit einem über Kreuz bin?«
»Gebens schon eine Ruh.« Kajetan setzte die Tasse auf. »Ich habs halt getan und wird schon wissen, warum.«
»Jetzt reden Sie Blödsinn. Sie wissen es nicht, genauso wenig wie ich.«
Kajetan fingerte nach seinem Kinnbart.
»Stimmt«, gestand er zögernd ein.
Teobalt beugte sich vor. »Der Stolz ist mit Ihnen durchgegangen, nichts weiter. Daß jemand ein wenig arm ist im Hirn und dann noch sein Maul aufreißt, das könnens nicht ertragen. Und deswegen tappens immer wieder rein in die Soße, genau wie ich. Aber wir vergessen dabei, daß man sich das auch leisten können muß.«
Kajetan mußte es zugeben. »Aber wer kann raus aus seiner Haut?«
Teobalt schüttelte den Kopf. »Bei mir hab ich den Verdacht«, sagte er nachdenklich, »daß ich es gar nicht möchte.«
»Na sehens. Also Schluß mit der Trübsinnigkeit! Alles ist, wies ist. Und irgendeinen Zweck wirds schon gehabt haben.« Kajetan hatte die Stimme gehoben, als wollte er sich selbst von seiner Rede überzeugen.
Emil Teobalts Miene hellte sich auf.
»Aber das muß man Ihnen lassen«, gluckste er, »ein gutes Mundwerk haben Sie. Das tut mehr weh als manche Ohrfeige.«
Kajetan wehrte gespielt ab.
»Ich hab bloß gesagt, was wahr ist.«
»Aber den Ostler ein… wie haben Sie ihn genannt?«
»Ein blahts Schwundhirn, ein blahts!«
»… zu nennen, das ist…«
»Nichts als die Wahrheit.« Kajetan grinste.
»Schon. Aber wenns statt dessen freundlich gesagt hätten: Herr Kopiermeister, für mich sind Sie ein ausgesprochener Cerebral-Atropist, dann hätt er sich sogar noch was drauf eingebildet!«
Kajetan tat ernst. »Jetzt weiß ich endlich, wozu ihr Bourgeois Latein gelernt habts.«
Teobalt schmunzelte. »Und wozu? Sagen Sie’s mir?«
»Doch bloß dafür, damit man nicht gleich spannt, daß ihr genauso hinterfotzig sein könnts.«
»Allerdings!« Teobalt nickte sarkastisch. »Haben Sie eine Ahnung… Aber sagen Sie, was werden Sie jetzt tun?«
Kajetan hob die Schultern. »Mich nach einer neuen Stell umschauen, was sonst? Die zwiderne Würzen, bei der ich logier, hockt mir schon jetzt im Genick wegen der Miete. Und Sie?«
»Ich muß mir auch auf der Stelle eine neue Unterkunft suchen. Ich kann sie mir ja bereits jetzt
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