Die Göttin im Stein
eigentlich uns ...
Ria sah Moria an und zugleich durch sie hindurch. »Ich weiß, was ich da bei Plitovit erreicht habe, ist nur ein kleiner Schritt. Aber der war meine Aufgabe – das, wovon ich gespürt habe, daß Naki es von mir erwartet. Darum kann ich in Frieden gehen, wenn mein Leben gefordert werden sollte gegen das meines Kindes.« Ria drückte den kleinen Stein. »Ich habe Nakis Tod einen Sinn gegeben. Verstehst du?«
»Wer verstünde das besser als ich«, sagte Moria und nahm Ria wieder in die Arme.
Schweigend hielten sie sich. Dann strich Moria der Tochter die Haare aus der Stirn und meinte: »Aber jetzt sprich nicht mehr vom Sterben! Du wirst leben. Und lebend wirst du ein Segen sein für die Frauen von Nakis Volk. Komm, wir wollen die heilige Hirschkuh um eine glückliche Niederkunft bitten. Und Nakis Stein wird dich bei der Entbindung beschützen, wie er mich beschützt hat.«
22
Die Tür wurde aufgerissen. Ri-Wirrkon stürmte herein, schüttelte die Regentropfen aus der braunen Mähne und ließ sich auf die Bank fallen. Krachend schlug die Tür zu.
»Stellt euch vor, ich habe einen Auerochsen erlegt, ich ganz allein!« sagte er und streckte die mächtigen Gliedmaßen zum Feuer. Stolz und Zufriedenheit strahlten aus seinem Gesicht.
»Wenn dir etwas zugestoßen wäre!« Haibe sah von ihrer Näharbeit auf, und Fasne, Ri-Wirrkons Pflegemutter, schüttelte besorgt den Kopf: »Warum tust du so was, Ri-Wirrkon? Warum bringst du dich so in Gefahr?«
Er lachte. »Nun schaut nicht so ängstlich! Es ist doch alles gutgegangen! Gestern habt ihr selbst beklagt, wie eintönig unsere Speisen jetzt im Frühjahr sind! Kein Fleisch, keine Milch, kein Obst und kein frisches Gemüse. Nun bitte, die nächsten Tage können wir essen wie an einem Festtag und die Koa und alle anderen Nachbarn dazu einladen! Und Gilai wünscht sich einen Ledermantel, nicht wahr, Tante Gilai?« Er grinste Gilai zu. Wie immer, wenn er Gilai, die beinahe drei Jahre Jüngere, mit ihrem Verwandtschaftsgrad aufzog, schnitt diese ihm eine Grimasse. »Was du nicht alles weißt, mein kleiner Neffe«, erwiderte sie spöttisch, um dann warm hinzuzufügen: »Ich freu' mich wirklich, wenn du mir das Fell schenkst!«
»Womit alles gesagt wäre«, erklärte Ri-Wirrkon abschließend, stand auf und drehte sich zu den Jungen um, die eine eichene Pflugschar ausbesserten. »Helft ihr mir, den Stier aus dem Auwald ins Dorf zu holen, ehe Bären, Wölfe und Füchse sich über ihn hermachen?«
»0 ja!« Mehr als bereitwillig ließen diese ihre Arbeit liegen und griffen nach den Binsenumhängen. Der kleine Tzi aber, Uoris Jüngster, zupfte Ri-Wirrkon am Kittel und schaute voller Bewunderung zu dem jungen Mann hinauf. »Verrätst du mir, wie du das machst«, bat er, »einen Auerochsen erlegen?«
Ri-Wirrkon strich dem Kind über die Haare. »Mit dem Speer, Tzi. Aber meine Großmutter hat schon recht, ein Auerochse ist wirklich gefährlich. Nie darfst du einen Auerochsen reizen, bis du ein starker Mann und guter Jäger bist, hörst du! Wenn du einem Auerochsen begegnest, dann versteckst du dich am besten hinter einem Baum.«
»Aber du hast dich nicht versteckt!« sagte der Junge. Ri-Wirrkon lachte.
Beharrlich fuhr Tzi fort: »Wie kannst du das: keine Angst zu haben und nicht wegzulaufen?«
»Ach, Angst hatte ich schon«, erwiderte Ri-Wirrkon, auf einmal ernst, »aber dann habe ich mir vorgestellt, ich stünde Lykos gegenüber, du weißt, diesem furchtbaren Lykos, der unsere alte Heimat überfallen, meine Mutter zugrunde gerichtet, meinen Großoheim getötet und eine Schreckensherrschaft über Fasnes Dorf geführt hat – und als ich das dachte: Es ist Lykos, der mich da angreift, da war es ganz leicht! Da habe ich ihn getötet.«
Die Knochennadel in Haibes Hand rutschte ab, fuhr ihr in den Finger, Blut quoll hervor, sie merkte es nicht. »Ri-Wirrkon, das sind Dinge, die geschehen sind, bevor du geboren wurdest oder als du noch an der Brust gelegen hast! Warum kannst du nicht vergessen?«
»Vergessen?!« fuhr der Enkel auf. »Wie sollte ich vergessen, da uns die Söhne des Himmels immer näher kommen! Wie lange hält das Meer sie noch auf, Großmutter?! Wenn du dir Sand in die Augen streuen willst, verlange nicht von mir, daß ich dir darin folge! Was glaubst du wohl, warum ich meinen Mut, mein Waffengeschick und meine Kraft bei der Jagd erprobe und dabei mein Leben wage – um eines Mantels und einiger Fleischtöpfe wegen? Zirrkan hat es nicht sehen
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