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Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
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voll zu schlagen. Er sah den kleinen Körper an, als wäre sie ein Stein oder ein Stück Holz: herzlos, mit einem Blick so eisig wie das Wasser, das zwei Schritte entfernt vorbeifloss. «Das ist die Kleine von Bourrache», flüsterte man ihm ins Ohr, als wollte man sagen: «Die arme Kleine, sie war erst zehn Jahre alt, bedenken Sie doch, gestern noch brachte sie Ihnen Ihr Brot und strich Ihre Tischdecke glatt.» Er fuhr plötzlich hoch, auf den Mann zu, der es gewagt hatte, ihn anzusprechen. «Ja und? Was geht mich das an? Eine Tote ist eine Tote!»
    Vor diesem Ereignis war der Richter Mierck für uns einfach der Richter Mierck, und fertig. Er hatte seinen Platz, er füllte ihn aus. Man mochte ihn nicht besonders, doch man zollte ihm Respekt. Aber nach dem, was er an diesem ersten Montag im Dezember gesagt hatte, angesichts der durchnässten sterblichen Überreste der Kleinen, und vor allem danach, wie er es gesagt hatte, schneidend, leicht spöttisch, mit lebhafter Freude darüber in den Augen, endlich ein Verbrechen zu haben, und zwar ein richtiges – denn dass es eines war, daran gab es keinen Zweifel – in diesen Kriegszeiten, in denen alle Mörder in Zivil Pause machten, um sich in Uniform noch eifriger an die Arbeit zu begeben, nach dieser Antwort also wandten sich alle wie ein Mann von ihm ab und gedachten seiner nur noch mit Abscheu. «Gut, gut, gut», fing er summend wieder an, als machte er sich bereit, zum Kegeln oder auf die Jagd zu gehen. Dann bekam er Hunger. Eine Marotte, eine Laune: Er brauchte weich gekochte Eier, «weich gekochte, keine weichen», beharrte er, auf der Stelle Eier, dort am Ufer des kleinen Kanals, bei zehn Grad minus, neben Belle de Jours Leiche: Auch dies hat die Leute schockiert. Einer der drei Gendarmen, der eben zurückgekehrt war, nachdem er den betressten Lackaffen abgeliefert hatte, rannte gleich wieder los, um ihm seine Eier aufzutreiben, «mehr als nur Eier, kleine Welten, kleine Welten», so nannte es Richter Mierck, wenn er die Schale mit einem winzigen, ziselierten Silberhämmerchen aufschlug, das er immer eigens dafür aus seiner Uhrtasche hervorzog, denn sie packte ihn des Öfteren, diese Marotte, bei der er sich den Schnurrbart goldgelb einschmierte. Während er auf die Eier wartete, erforschte er pfeifend, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, mit seinen Blicken Meter für Meter die Umgebung, während wir übrigen noch immer versuchten, uns aufzuwärmen. Und er redete, war nicht mehr zu bremsen. In seinem Mund war sie nicht mehr Belle de Jour, obwohl auch er sie früher so genannt hatte, das habe ich selbst gehört. Von nun an sagte er «das Opfer», als raubte der Tod nicht nur das Leben, sondern obendrein die hübschen Blumennamen. «Sie haben das Opfer herausgefischt?» Brechuts Sohn kramt noch immer in seiner Weste, als wollte er sich darin verstecken. Er nickt zustimmend, und der andere fragt ihn, ob er die Sprache verloren habe. Brechuts Sohn bedeutet ihm, weiter stumm, ein Nein. Das alles, spürt man, verärgert den Richter, sodass ihm die gute Laune wieder abhanden kommt, in die ihn der Mord gerade versetzt hat, vor allem weil der Gendarm im Verzug ist und seine Eier nicht kommen. Endlich rückt Brechuts Sohn mit Einzelheiten heraus, und der andere hört ihm, von Zeit zu Zeit «gut, gut» murmelnd, zu. Minuten vergehen. Es ist immer noch genauso kalt. Die Gänse sind endlich verschwunden. Das Wasser fließt. Ein Zipfel der Decke taucht hinein, und die Strömung treibt ihn hin und her, bewegt ihn; man könnte meinen, es sei eine Hand, die den Takt schlägt, ein- und wieder auf taucht. Aber das sieht der Richter nicht. Er hört dem Bericht von Brechuts Sohn zu, lässt sich kein Fitzelchen entgehen, seine Eier hat er vergessen. Zu dieser Uhrzeit hat sein Gegenüber noch klare Vorstellungen vom Geschehen. Später wird er einen Roman daraus machen, während er von einem Café zum anderen geht, um die Geschichte zu erzählen, und sich von allen Wirten einen ausgeben lässt. Gegen Mitternacht wird er besoffen sein, den Namen der Kleinen mit flatternden Tremolos hinausschreien und den Wein aus all den Gläsern, die er im Vorübergehen geleert hat, auf seine Hose pissen. Ganz am Ende des Abends, völlig eingeferkelt, drückt er sich vor seinem vielköpfigen Publikum nur noch mit Gesten aus. Schönen, erhabenen, dramatischen Gesten, die durch den Wein noch sprechender werden. Richter Miercks dicker Hintern quoll über den Rand seines Jagdhockers, eines Dreibeins

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