Die grauen Seelen
I
Ich weiß nicht genau, wo ich beginnen soll. Es ist schwer. Da ist all die vergangene Zeit, die die Worte nicht hervorholen werden, da sind die Gesichter, das Lächeln, die Wunden. Dennoch muss ich versuchen auszusprechen, was seit über zwanzig Jahren mein Herz nicht zur Ruhe kommen lässt. Das schlechte Gewissen, die wichtigen Fragen. Ich muss das Geheimnis mit dem Messer öffnen wie einen Bauch, muss es ergründen, selbst wenn sich dadurch rein gar nichts ändern wird. Sollte man mich fragen, durch welches Wunder ich die Tatsachen kenne, die ich erzählen will, so werde ich nur antworten, dass ich sie kenne, und damit Schluss. Ich kenne sie, weil sie mir vertraut sind wie die Nacht und der Tag. Weil ich mein Leben mit dem Versuch zugebracht habe, sie zu sammeln und wieder zusammenzufügen, damit sie sprechen, damit ich sie höre. Früher einmal war das Teil meines Berufs. Ich werde etliche Schatten vorbeiziehen lassen. Vor allem einer wird im Vordergrund stehen. Er gehörte einem Mann, der Pierre-Ange Destinat hieß. Mehr als dreißig Jahre lang war er Staatsanwalt in V., und er übte seinen Beruf aus wie eine mechanische Uhr, die nie aussetzt, nie stillsteht. Große Kunst, wenn man so will, Kunst, die kein Museum braucht, um sich ihres Wertes zu versichern. 1917, im Jahr der «Affäre», wie man bei uns sagte, wobei man das Wort mit Seufzern und Mimik unterstrich, war er über sechzig Jahre alt und ein Jahr zuvor in Pension gegangen. Er war ein hoch gewachsener, hagerer Mann, der aussah wie ein frostiger, majestätischer, abwesender Vogel. Er sprach wenig. Er war sehr eindrucksvoll. Er hatte helle, reglos wirkende Augen und schmale Lippen, eine hohe Stirn und graue Haare.
V. liegt etwa zwanzig Kilometer von uns entfernt. 1917 bedeuteten zwanzig Kilometer eine ganze Welt, vor allem im Winter und vor allem in diesem nicht enden wollenden Krieg, der unsere Straßen mit dem Dröhnen von Lastwagen erfüllte und stinkenden Qualm und tausendfachen Donner zu uns brachte, denn die Front war nicht weit, auch wenn sie uns vorkam wie ein unsichtbares Ungeheuer, ein verborgenes Land. An unterschiedlichen Orten und in den verschiedenen Kreisen hieß Destinat anders. Im Gefängnis von V. nannten die meisten Insassen ihn Bois-le-sang, den Bluttrinker. In einer Zelle habe ich einmal sogar eine mit dem Messer in die dicke Eichentür geritzte Zeichnung gesehen, die ihn darstellte; sie sah ihm übrigens ziemlich ähnlich. Dazu muss man sagen, dass der Künstler während seines zwei Wochen dauernden Prozesses alle Zeit der Welt gehabt hatte, sein Modell zu studieren. Wenn wir dagegen Pierre-Ange Destinat auf der Straße begegneten, nannten wir ihn «Herr Staatsanwalt». Die Männer lüpften ihre Mützen, die einfachen Frauen machten einen Knicks. Die vornehmen Damen, die zu seiner Welt gehörten, nickten nur leicht mit dem Kopf, wie kleine Vögel, wenn sie aus der Dachrinne trinken. Das alles berührte ihn kaum. Er antwortete nicht oder so unmerklich, dass man ein gut poliertes Lorgnon hätte tragen müssen, um die Bewegungen seiner Lippen zu erkennen. Nicht aus Verachtung, wie die meisten Leute meinten, sondern, glaube ich, einfach nur aus Gleichgültigkeit.
Dennoch gab es eine junge Person, die ihn beinahe verstanden hat, eine junge Frau, von der ich noch berichten werde, die ihm, aber nur im Stillen, den Beinamen Tristesse, Traurigkeit, gab. Vielleicht war es ihre Schuld, dass alles geschah; doch hat sie nie etwas davon erfahren. Zu Beginn des Jahrhunderts war ein Staatsanwalt noch ein bedeutender Herr. Und zu Kriegszeiten, wenn ein einziger Artilleriefeuerstoß eine ganze Kompanie wild entschlossener Kerle niedermähen konnte, war es eine echte Herausforderung des staatsanwaltlichen Handwerks, den Tod eines einzelnen Mannes in Ketten zu verlangen. Destinat handelte, glaube ich, nicht aus Grausamkeit, wenn er den Kopf eines armen Teufels forderte und auch bekam, der einen Postbeamten niedergeschlagen oder seine Schwiegermutter aufgeschlitzt hatte. Er sah den Einfaltspinsel vor sich, in Handschellen, zwischen zwei Polizisten, und bemerkte ihn kaum. Er blickte sozusagen durch ihn hindurch, als wäre der andere schon nicht mehr vorhanden. Destinat hatte es nicht auf einen Verbrecher in Fleisch und Blut abgesehen, sondern verteidigte eine Idee, ganz einfach eine Idee, die Idee, die er von Gut und Böse hatte.
Der Verurteilte schrie bei der Urteilsverkündung, weinte, raste, hob bisweilen die Hände zum Himmel, als erinnerte er
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