Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die grauen Seelen

Die grauen Seelen

Titel: Die grauen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Claudel
Vom Netzwerk:
Bourrache, der ihn trotzdem um nichts in der Welt vergeben hätte, nicht einmal an Tagen, an denen großer Markt war und sämtliche Bauern, die der Landstrich zählte, herbeiströmten, um sich satt zu essen, nachdem sie die Kruppen zahlreicher Kühe getätschelt und seit Tagesanbruch einen Liter Pflaumengeist getrunken hatten, und bevor sie sich im Bordell von Mutter Nain Erleichterung verschafften. Der Tisch blieb unbesetzt. Einmal hat Bourrache sogar einen Viehhändler vor die Tür gesetzt, der ihn für sich verlangte. Er kam nie wieder. «Besser ein königlicher Tisch ohne König als ein Gast, der mit Mist an den Füßen am Tisch sitzt!» Das sagte Bourrache eines Tages zu mir, als ich ihm auf die Nerven ging.

    II

    Der erste Montag im Dezember. In unserer Stadt. 1917. Sibirische Kälte. Der Boden klang hart unter den Absätzen, das Geräusch vibrierte hinauf in den Nacken. Ich erinnere mich an die große, über den Leichnam der Kleinen gebreitete Decke, die sich rasch mit Wasser vollsog, und an die beiden Polypen, die ihn an der Uferböschung bewachten, Berfuche, ein Gedrungener mit behaarten Wildschweinohren, und Grosspeil, ein Elsässer, dessen Familie vierzig Jahre zuvor ausgewandert war. Etwas weiter hinten stand Brechuts Sohn, ein Dickwanst mit Haaren so steif wie Besenborsten, der seine Weste knautschte und nicht genau wusste, was er tun sollte, bleiben oder fortgehen. Er war es, der sie auf seinem Weg zur Arbeit im Wasser entdeckt hatte. Er erledigte Schreibarbeiten im Hafenamt. Das tut er immer noch, nur ist er jetzt zwanzig Jahre älter und sein Schädel so glatt wie eine Eisscholle.
    Der Körper einer Zehnjährigen ist nicht dick, schon gar nicht, wenn er vom Wasser des Winters durchnässt ist. Berfuche zog an einem Zipfel der Decke. Dann hauchte er in seine Hände, um sie zu wärmen. Belle de Jours Gesicht tauchte auf. Lautlos flogen einige Raben vorüber. Sie sah aus wie eine Märchenprinzessin mit bläulichen Lippen und weißen Lidern. Ihre Haare zerflossen ins vom Morgenfrost rötlich verfärbte Gras, ihre kleinen Hände hatten sich um ein Nichts geschlossen. So kalt war es an jenem Tag, dass die Schnurrbärte aller Anwesenden sich mit Reif überzogen, während sie die Luft wie Stiere ausatmeten. Wir stampften mit den Füßen, damit Blut hineinströmte. Unbeholfen kreisten Gänse am Himmel. Sie schienen vom Weg abgekommen zu sein. Die Sonne duckte sich in ihren Mantel aus Nebel, der immer stärker ausfranste. Sogar die Kanonen schienen eingefroren. Man hörte nichts.
    «Vielleicht ist endlich Frieden», wagte Grosspeil zu sagen.
    «Frieden, du meine Fresse», fuhr ihn sein Kollege an und deckte die durchnässte Wolle wieder über den Leichnam der Kleinen.

    Wir warteten auf die Herren aus V. Sie trafen schließlich in Begleitung des Bürgermeisters ein, der finster dreinblickte, so finster, wie man eben aussieht, wenn man zu unchristlicher Zeit aus dem Bett gezerrt wird, noch dazu bei einem Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagen würde. Mit ihm kamen Richter Mierck, dessen Schreiber, den alle Crouteux nannten, weil ein hässliches schorfiges Ekzem die linke Hälfte seines Gesichts verunstaltete, drei Gendarmen niederen Dienstgrades, die sich für besonders schlau hielten, und ein Soldat. Ich weiß nicht, was er dort zu suchen hatte, dieser Soldat, jedenfalls blieb er nicht lange: Nach kurzer Zeit verdrehte er die Augen und musste ins Café Jacques getragen werden. Ein Gimpel. Er war sicher nie in die Nähe eines Bajonetts gekommen, außer an einem Waffenschrank, und vielleicht noch nicht einmal das! Man sah es an seiner makellos gebügelten Uniform, die geschnitten war wie für eine von Poirets Schaufensterpuppen. Bestimmt führte er seinen Krieg in der Nähe eines anständigen gusseisernen Ofens, in einem breiten Velourssessel sitzend, und abends erzählte er unter vergoldetem Stuck und Kristalllüstern jungen Frauen in Ballkleidern von diesem Krieg, umgeben von den altmodischen Klängen eines Kammerorchesters.
    Unter seinem Cronstadt-Hut und seiner von gutem Essen wohlgenährten Erscheinung war Richter Mierck ein ganz scharfer Hund. Mag sein, dass die weinhaltigen Saucen ihm Ohren und Nase einfärbten, sanfter aber stimmten sie ihn nicht. Er schlug eigenhändig die Decke zurück und betrachtete Belle de Jour lange. Die anderen warteten auf ein Wort, einen Seufzer, denn immerhin kannte er sie gut, sah sie täglich oder beinahe täglich, wenn er in den Rebillon ging, um sich den Bauch

Weitere Kostenlose Bücher