Die Große Wildnis: Band 1 (German Edition)
anstrengende Reise liegt vor euch. Vielleicht werden nicht alle von euch sie überstehen. Und wer weiß, wie viele Tiere ihr noch lebend im Ring des Waldes vorfindet .* Ich streichle über ihre Schnäbel und ihr Gefieder – wohl zum allerletzten Mal. Ich will nicht, dass sie wegfliegen, jedenfalls nicht allein. Aber sie sind schneller, als wir es jemals sein könnten. * Vielleicht werden gerade so viele überlebt haben, dass ein neuer Anfang möglich ist. Ihr wisst ja, der magische Trank meines Vaters ist noch nicht vollkommen – aber er ist besser als gar keiner .*
* Besser als gar keiner *, wiederholt Weiße Taube leise für sich selbst, und es scheint, als hätte sie zum ersten Mal etwas verstanden.
Ich küsse sie sachte auf den Kopf, ehe ich die Hände hochwerfe und sie in die Freiheit entlasse. Die anderen Tauben folgen ihr, sie fliegen in Formation über die Bäume hinweg in den endlosen Himmel. Wir warten, bis die letzte Taube nur noch ein kleines Pünktchen am Horizont ist und nur noch die vorbeiziehenden Wolken zu sehen sind. Ich spüre, wie Polly sanft meine Hand nimmt und mich in den Garten zurückführt, dorthin, wo Pa jetzt neben dem Hirsch kniet und ihn streichelt.
»Kester«, sagt sie, »jetzt, wo die Tauben mit dem Heilmittel weggeflogen sind, meinst du, ich sollte –«
Sie beendet ihren Satz nicht, denn ich bin wie gebannt stehen geblieben und habe ihre Hand losgelassen.
Ich höre Stimmen. Zwei, die sich unterhalten.
Die Stimme eines Tiers, das zu einem Menschen spricht.
Aber nicht zu mir.
Ich laufe, so schnell ich kann, durch den Garten. Pa und der Hirsch blicken mich an, der Hirsch unter halb geschlossenen Lidern, er ist noch benommen von der Medizin. Pa, der sich erstaunt umgedreht hat, fragt den Hirsch – ja, er spricht zu ihm – : * Sag mir, Großer Hirsch, ist das Teil des Traums? *
Der Hirsch nickt bedächtig, und obwohl er schwach ist, steht er auf. Kleiner Wolf stellt sich neben ihn, die Maus und der General setzen sich auf sein Geweih. Noch nie habe ich sie so ernst gesehen.
Mein Pa kann mit Tieren sprechen.
Ist es das, von dem meine Ma meinte: » Sag Pa, dass er es dir erklären muss «?
Ich starre ihn an. Dann den Hirsch. Fuchsteufelswild …
* Es tut mir leid *, sagt Pa. * Ich weiß, ich hätte … Du weißt ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm … Aber sie haben dich geholt, bevor ich … *
* Ja *, unterbricht ihn der Hirsch. * Ja, das war Teil des Traums .*
Er schaut mich an, sein Kopf ist halb im Schatten des Apfelbaums verborgen, aber sein Geweih zeichnet sich deutlich vor dem Himmel ab. * Große Wildnis, der Traum besagt, dass der Sohn des Mannes, der sprechen kann, uns über Land und Berge, durch Wasser und Feuer führen wird, um das Letzte Wild zu retten. Das hast du getan und dafür danken wir dir .* Er berührt mein Haar mit seiner Nase. * Doch ich fürchte, der Traum ist noch nicht zu Ende .*
Mir schwirren so viele Fragen im Kopf herum, ich weiß nicht, welche ich zuerst stellen soll.
Plötzlich lässt uns ein Geräusch herumfahren.
Es kommt von einem fernen Punkt am Himmel, hoch über den gläsernen Wolkenkratzern. Zuerst denke ich, es ist eine der Tauben, vielleicht die Weiße, die sich wieder verirrt hat – aber wenn es ein Vogel ist, dann wäre er unvorstellbar riesig. Die schwirrenden Rotoren, die er statt der Flügel hat, machen wusch , wusch . Es ist ein Vogel aus Metall, mit purpurroten Seiten, auf denen ein F gemalt ist.
Ein Vogel aus Metall, der direkt auf uns zugeflogen kommt.
Aber Pa fürchtet sich nicht. Er legt mir den Arm um die Schulter und drückt mich fest.
* Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass er uns ungestraft davonkommen lässt … *, murmelt er.
Und mir wird klar, dass meine Geschichte eben erst angefangen hat.
© James Betts
Piers Torday stammt aus Northumberland – vielleicht dem einzigen Landstrich in England, der von mehr Tieren als Menschen bevölkert ist.
Er arbeitete als Theaterproduzent, Dramatiker und fürs Fernsehen. Heute lebt er in London. »Die Große Wildnis« ist sein erster Roman.
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