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Die großen Erzählungen

Die großen Erzählungen

Titel: Die großen Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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zuerst und etwas hastig, schien mir. Sie hattewahrscheinlich geglaubt, ich würde heute nicht mehr warten, weil sie gestern krank gewesen war. Ich sah nur kurz hinauf, und in meinen Augen lag eine lange Rede.
    Wenn ich drei Tage ununterbrochen gesprochen hätte, ich hätte ihr gar nicht so viel sagen können.
    Ich war ganz dumm und knabenhaft aufgeregt. Sie verstand, schien mir, was ich gesagt hatte. Dann klinkte sie das Fenster zu, als es stärker dunkelte, im Zimmer floß plötzlich helles Licht, und die Gardinen schlossen sich. An der weichen, hellen Gardinenfläche zeichnete sich der Schatten eines großen Mannes ab. Es war nicht der Herr Postdirektor, denn der Schatten des Postdirektors hätte einen Backenbart gehabt. Es war ein bartloser Mann. Vielleicht der Bruder.
    Ich ging noch eine Stunde durch den Park. Die Menschen liebten sich immer noch auf den Bänken und Beeten. Ich begegnete mehreren Frauen, die mit losen Haaren und mit einer fremdartigen Ausgelassenheit verlorener und berauschter Menschen auf den Kieswegen, ziellos scheinbar, wanderten. Ihr Gang war so taumelnd und dennoch erregtlebendig. Sie nahmen sich aus wie Kreisel, die früher einmal von irgendeiner fremden Kraft in rastloses Rotieren versetzt worden waren und nun, da die Wirkung dieser unbekannten Macht erschöpft ist, immer noch im nachhaltenden Zauber des rotierenden Schwunges befangen, aber müde, ihre letzten flatternden Runden vollziehen und nach einem äußeren Stützpunkt oder dem eigenen Gleichgewicht vergeblich suchen.
    Alle diese, dachte ich, sind gesund und werden nicht sterben.
    Ich traf Anna in ihrem Zimmer, wie sie im Hemd am Bettrand saß und weinte. Sie hielt die Hände nicht nach der Art weinender Menschen vor das Angesicht. Es schien, daß ihr unermüdliches, mit Landregengleichmaß und stetig rinnendesWeinen nicht aus ihrer Seele kam, sondern wie von außen her; etwas Fremdes, Plötzliches, Überfallendes, gegen welches sich zu wehren nutzlos, das zu verhüllen ohne Zweck war.
    In dieser Nacht liebte ich Anna wie zum ersten Male, mit der Zärtlichkeit und der Freude, mit der man einen ganz neuen Besitz umhüllt.
    Am nächsten Morgen erlebte ich die letzte Geschichte dieses Städtchens.
    Sehr früh saß der Reisende schon im Kaffeehaus und aß Kuchen. Er aß nicht mit der Hand, sondern umständlich mit Messer und Teelöffel, denn der Reisende war ein feiner Mann und wußte sich zu benehmen. Er aß sehr lange an seinem Kuchen. Dann stand er auf, ging zum Wandkalender und riß das Datum von gestern herunter, entschieden und so, als schüfe er das Heute, den neuen Tag, stolz und machterfüllt wie ein Gott. Mir bangte vor der Ankunft des Postdirektors.
    Der Herr Postdirektor riß seit Jahrzehnten die alten Tage ab und entschleierte die neuen, behutsam und demütig, nicht wie ein Gott, sondern wie ein Diener Gottes. Heute würde er entsetzt nach dem Wandkalender sehen, irre werden in den Wochentagen und Daten und die Welt nicht mehr verstehen.
    Deshalb hob ich den zerknitterten Zettel auf, glättete ihn und brachte ihn, so gut es ging, wieder am Wandkalender an.
    Der Reisende sah mir zu und sagte: »Mein Herr, heute ist der 28. Mai!« Ich erschrak fast, so laut sagte er das Datum dieses Tages, und obwohl es eine sehr einfache Sache war und alle Welt es wissen mußte, schien mir, als hätte der Reisende ein scheues Geheimnis mit unverschämter Roheit ausgebrüllt.
    Der 28. Mai!
    In diesem Augenblick schlug die Turmuhr halb acht, der Herr Postdirektor trat ein, seine Sporen klirrten leise und übermütig, sie kicherten, und der Herr Postdirektor ging feierlich an den Wandkalender und enthüllte den neuen Tag. Erst jetzt war’s der 28. Mai geworden!
    Dieser 28. Mai wurde einer der wichtigsten Tage meines Lebens. Ich beschloß nämlich abzureisen.
    Was hätte ich auch länger tun sollen in diesem Städtchen? Das Mädchen am Fenster mußte sterben, Anna tat mir weh, ihr Anblick schmerzte mich, und ich konnte ihr nicht helfen. Den Briefträger kannte ich schon auswendig, und das silberne Sporenklimpern des Herrn Postdirektor auch. Käthe, dachte ich, wird jeden Morgen um die gleiche Stunde ihr Fenster aufklinken, und es wird nichts dabei sein, wenn ich nicht mehr vorübergehend guten Morgen sage. Und es war schon der 28. Mai.
    Am 28.  Mai konnte ich unmöglich länger bleiben. Fast ohne daß ich es gesehen hätte, waren die Ähren auf den Feldern mannshoch und noch darüber gewachsen. Wenn ein halbes Dutzend aufeinanderstehender

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