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Die großen Erzählungen

Die großen Erzählungen

Titel: Die großen Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Strohhalm im Strom des Geschehens, schwimmend und fortgerissen. Ich weinte über den Verlust einer Papiertüte, einer Nutzlosigkeit. Seitdem ich alt bin, weine ich nicht mehr und lache nicht. Niemand kann mir ein unmittelbares Leid zufügen. Über Schmerz und Freude bin ich hinausgewachsen.
    Nun aber lebte ich Schmerz und Freude und sank tief in die Kleinigkeiten.
    Das Mädchen sah jeden Tag zum Fenster hinaus, wenn ich vorbeiging. Jeden Tag grüßte ich. Am dritten Tag lächelte sie.
    An ihrem Lächeln lernte ich, daß es nichts Geringfügiges gibt unter der Sonne. Ihr Lächeln am dritten Tag war ein großes Ereignis.
    Ihr Gesicht war blaß und klein. Ihre schwarzen Augen blank, wie geputzt. Ihr Haar glatt und rückwärts gekämmt. Ihre Schultern schmal und furchtsam.
    Auch wenn es regnete, sah sie zum Fenster hinaus, und das Fenster war offen. Ich saß im Wirtshaus, und die Fensterscheibewar von der Regenkälte angelaufen. Ich mußte das Glas jedesmal blank wischen. Jedesmal lächelte das Mädchen.
    Einmal saßen zwei Männer an dem Tisch in der Fensterecke des Wirtshauses, und ich aß nicht, sondern ging hinaus und wanderte vor dem Wirtshaus auf und ab und war lächerlich wie ein Nachtwächter. Ich hatte den Mantelkragen hochgeschlagen und ging langsam, mit großen Schritten. Von meinen Kleidern tropfte es. Die Leute standen im Haustor des Postgebäudes oder in der Einfahrt des Wirtshauses und warteten, bis der Regen aufhören würde. Wenn es blitzte, fuhren sie ein bißchen zusammen und hörten auf zu reden. Manchmal sahen sie mich an. Ein junges Weib vom Lande, in Holzpantoffeln und mit aufreizend prallen Brüsten, die hinter der regenfeuchten Bluse fortwährend zitterten vor Kälte und Erregung, rückte einmal auf der Schwelle zur Seite, zupfte mich am Ärmel und wies auf den freien Platz. Ich aber ging weiter, und oben lächelte das Mädchen.
    Die Menschen sahen zum Fenster hinauf und lachten. Das junge Weib lachte auch. Ich sah mich um, da waren sie alle verlegen, vielleicht hielten sie mich für verrückt.
    Von diesem Vorfall lebte ich eine ganze Woche lang. Ich erzählte Anna von dem Mädchen, und Anna lachte mich aus. »Warum lachst du?« sagte ich. »Ich liebe das Mädchen am Fenster.«
    »Warum gehst du nicht zu ihr hinauf?«
    »Ich will’s tun!«
    »Nein, tu’s nicht!« bat Anna. »Vielleicht liebst du sie wirklich.«
    Ich werde niemals vergessen, wie eines Tages der Postdirektor neben dem Mädchen am Fenster stand. Ich grüßte, und der Postdirektor grüßte wieder. So selbstverständlich, als wäre ich sein guter Freund.
    Das Mädchen war seine Nichte, sagte mir Anna.
    Ich beschloß, zum Postdirektor zu gehn.
    Aber es dauerte zwei Wochen, und ich ging noch immer nicht. Ich wollte sagen: Verehrter Herr Postdirektor, Ihre Augen und Ihre Sporen und selbst Ihre überlange Hose habe ich gern. Dieses Mädchen liebe ich aber. Ich glaube, sie ist die Frau meines Lebens. Ich will sie nicht verlieren wie Abel, mein Freund.
    Und dann würde ich die Geschichte von meinem Freund Abel erzählen.
    Der Postdirektor würde lächeln und aufstehn, und seine Sporen würden leise klirren, so wie kaum erwachsene silberne Tschinellen, die erst ordentlich klingen lernen müssen.
    Das Mädchen würde meine Geschichte verstehen und nicht fragen wie Anna.
    Das Mädchen ist überhaupt ganz anders.
    Ich wüßte auch, was ich dem Mädchen zu sagen hätte.
    Ich fuhr in die große Stadt, um mir selbst Geld zu schicken, und schrieb meinen Namen verkehrt und nur den Anfangsbuchstaben meines Vornamens. Dann kam ich zurück und wartete auf das Geld.
    Der Briefträger kam und war sehr aufgeregt, weil er das letzte Mal vor zwei Jahren Geld gebracht hatte. Das war schon lange her, und er wiederholte rasch die Vorschriften und verlangte meine Papiere. Er behielt die Kappe auf dem Kopf, während er im Zimmer stand, denn er war im Dienst.
    Er wollte mir das Geld geben, aber ich sagte:
    »Mein Name ist verkehrt geschrieben.«
    »Das tut nichts«, sagte der Briefträger.
    »Oh, doch!« sagte ich. »Tragen Sie das Geld zum Herrn Postdirektor, und fragen Sie ihn, ob Sie mir das Geld geben dürfen.«
    Später saß ich zehn oder fünfzehn Minuten lang beim Herrn Postdirektor. Aber wir sprachen nur von meinemGeld, und er sagte, daß er gar nicht zweifle; ich wäre der rechtmäßige Empfänger. In dieser Stadt hat noch nie jemand so oder ähnlich geheißen.
    »Ja, es ist eine sehr ruhige kleine Stadt«, sagte der Herr Postdirektor, und er wollte

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