Die Häuser der anderen
dir einfach zu viele Gedanken.«
»Über was redet ihr?«, fragte Anne, die sie in der Küche gehört hatte. Sie war in ihr Zimmer gegangen, und Luisa war ganz froh gewesen, sie für eine Weile los zu sein, aber da hatte sie es anscheinend keine fünf Minuten ausgehalten. Luisa sah Christopher triumphierend an, woraufhin er kopfschüttelnd aufstand und mitsamt seinem Teller im Arbeitszimmer verschwand.
»Ich mache Tee, Anne, willst du auch einen? Hör zu, du kannst ruhig mal eine Stunde für dich sein und lesen oder irgendwas anderes machen.«
»Klar«, sagte Anne, und weg war sie. Nach exakt einer Stunde – Luisa hatte sich zweimal überlegt, ob sie nach ihr sehen sollte, es dann aber bleiben lassen – tauchte sie wieder auf. Sie hatte sich die Haare zu zwei Zöpfen geflochten und trug jetzt einen kurzen schwarzen Rock, der überhaupt nicht wie Kinderkleidung aussah, zu einem weißen T-Shirt.
»Braucht der Hund vielleicht frisches Wasser?«, fragte sie und senkte leicht den Kopf, nachdem sie gesprochen hatte.
Ich fasse es nicht, dachte Luisa. Abräumen, Beeren lesen, dem Hund Wasser geben, solche Aufgaben gefallen ihr. Wie unnatürlich für ein Kind, so zu sein. So devot. Oder vielleicht war das auch eine dieser Phasen, von denen Ines gesprochen hatte. Als sie die Kindersachen ins Gästezimmer geräumt hatten, hatte sie sieben oder acht Bücher von Anne auf den Nachttisch gelegt und gesagt, Anne liest unglaublich schnell, und sie nimmt hundertprozentig Anteil an den Schicksalen in den Geschichten, als ob sie sie nicht von der Wirklichkeit unterscheiden könnte. Luisa hatte gefragt, ob sie das nicht etwas beängstigend fände, aber Ines hatte gesagt, das wäre wohl nur wieder eine Phase. Anne schien viele Phasen zu haben. Und wenn schon, dachte Luisa, mir soll es recht sein. Ob das Kind normal ist oder nicht, steht mir nicht an zu beurteilen. Sie wollte sich keine Gedanken mehr darüber machen, schließlich musste man sich erst einmal aneinander gewöhnen. Auch der Hund war ihr anfangs seltsam vorgekommen – sie hatte nie gewusst, was genau er eigentlich wollte, wenn er sie anstupste, winselte oder bellte, aber das war längst nicht mehr so.
Luisa nahm sich vor, nicht zu ungeduldig und auf keinen Fall böse zu Anne zu werden. Sie musste sich beherrschen. Anne war ein Kind, natürlich, und sie war aus den falschen Gründen enttäuscht. Was hatte sie erwartet? Sie hatte einfach die Tendenz, Menschen in weiß und schwarz einzuteilen, in gut oder böse. Christopher hatte ihr schon so oft vorgeworfen, dass ihre Urteile kein Maß kannten, dass es für sie weder Mischformen noch Differenziertheit gäbe.
»Möchtest du gern ein Eis, Anne?« Luisa sprach nicht einfach, sie flötete.
»Sehr gern«, sagte Anne.
Na also, geht doch, dachte Luisa. Laut sagte sie: »Na, da bin ich aber beruhigt. Komm, wir setzen uns in den Garten, ich muss ein bisschen arbeiten. Nimmst du dir auch ein Buch?«
Und Anne ging, ihr Eis am Stiel in der Hand, folgsam ihre Lektüre holen.
Fast vierzig Minuten lang konnte Luisa sich auf Rubens grässliches Spätwerk konzentrieren, dann aber lenkte Anne sie ab, die nach dem Eisessen ihr Buch las. Sie las sich halblaut selbst vor, ein Gemurmel, das einen automatisch zum Lauschen animierte – nur, dass man nichts verstehen konnte. Dabei wirkte Anne strahlend glücklich, sie lächelte beim Lesen; Luisa brachte es nicht übers Herz, sie zu unterbrechen, sondern klappte lieber ihren Bildband sowie das Notizheft mit den noch nicht konsultierten Exzerpten zweier neuerer Rubens-Dissertationen zu und schloss für einen Moment die Augen. Auch dieser Sonntag, so wollte es wohl das Schicksal, sollte träge und melancholisch sein.
Das Picknick am Abend war dann endlich ein Erfolg. Da Christopher gut vorangekommen war, zeigte er sich in bester Laune, und als Luisa ihm von ihrer Idee erzählte, sagte er, das höre sich fantastisch an. Einen kurzen Wortwechsel gab es noch, weil Luisa sich partout nicht überzeugen lassen wollte, dass eine blütenweiße Decke nicht ganz das Richtige wäre und man besser ein altes Tischtuch nehmen sollte, das notfalls Grasflecken bekommen durfte. Zu guter Letzt griff Luisa zu einem Mittel, das sie für sich das Totschlagargument nannte – wenn es keine große Sache war, gab Christopher nämlich nach, wenn sie sagte: »O bitte, ich habe es mir so gewünscht .« Nachdem sie das einmal mitten im Riesenstreit herausgefunden hatte, wendete sie es sparsam, damit es sich nicht
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