Catherine
P ROLOG
Bar Harbor, Maine
12. Juni 1912
Ich sah ihn auf den Klippen oberhalb der Frenchman Bay. Er war groß und dunkelhaarig und jung. Selbst als ich in großer Entfernung vorbeiging, Klein-Ethans Hand in der meinen, konnte ich die trotzige Haltung seiner Schultern erkennen.
Er hielt den Pinsel, als wäre er ein Säbel, und seine Palette wie einen Schild. In der Tat erschien es mir, als würde er mit seiner Leinwand eher ein Duell ausfechten, als darauf zu malen. So tief war seine Konzentration, so schnell und wild waren die Bewegungen seines Handgelenks, dass man hätte denken können, sein Leben würde von dem abhängen, was er da erschuf.
Vielleicht glaubte er das sogar.
Ich fand es seltsam, sogar amüsant. Meine Vorstellung von Künstlern war stets eine von sanften Seelen gewesen, die Dinge sehen können, die uns gewöhnlichen Sterblichen verborgen bleiben, und die in ihrem Bemühen leiden, diese Dinge für uns sichtbar zu machen.
Und doch wusste ich, sogar bevor er sich umdrehte und mich ansah, dass ich kein sanftes Gesicht zu sehen bekommen würde. Er schien selbst das Werk eines Künstlers zu sein. Ein Bildhauer hatte ein Stück eines Eichenstamms bearbeitet und daraus eine hohe Stirn geschnitzt, dazu düster dreinblickende Augen, eine lange gerade Nase und einen vollen, sinnlichen Mund. Selbst seine schwungvoll fallenden Haare mochten aus Ebenholz gehauen worden sein.
Wie er mich anstarrte.
Selbst jetzt noch kann ich fühlen, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg und meine Handflächen plötzlich feucht wurden.
Der Wind, süß und feucht von der See, fuhr in seine Haare und zerrte an seinem lose fallenden Hemd, das mit Farbe bespritzt und befleckt war.
Mit den Felsen und dem Himmel in seinem Rücken sah er sehr stolz aus, sehr zornig, als würde ihm dieses hoch aufragende Stück Land gehören – oder sogar die gesamte Insel –, und als wäre ich hier ein Eindringling.
Er stand da, schweigend, scheinbar eine Ewigkeit, und seine Augen blickten so eindringlich und irgendwie so wild, dass meine Zunge am Gaumen zu kleben schien.
Dann begann Klein-Ethan zu plappern und an meiner Hand zu ziehen. Der zornige Blick in den Augen des Malers wurde sanfter. Er lächelte. Ich weiß, dass ein Herz in solchen Momenten nicht stehen bleibt. Und doch …
Ich ertappte mich dabei, wie ich stammelte und mich für die Störung entschuldigte, und ich hob Ethan auf meine Arme, bevor mein kluger und neugieriger kleiner Junge zu den Felsen laufen konnte.
Er sagte: »Warten Sie!«
Dann griff er nach einem Skizzenblock und einem Stift und begann zu zeichnen, während ich reglos dastand und aus Gründen bebte, die ich nicht begreifen kann. Ethan hielt ganz still und lächelte. Irgendwie war er von dem Mann genauso fasziniert wie ich.
Ich fühlte die Sonne auf meinem Rücken und den Wind in meinem Gesicht, und ich konnte das Wasser und wilde Rosen riechen.
»Ihr Haar sollte offen fallen«, sagte er, legte seinen Stift beiseite und kam auf mich zu. »Ich habe Sonnenuntergänge gemalt, die weniger dramatisch aussahen.« Er streckte eine Hand aus und berührte Ethans hellrotes Haar. »Sie teilen diese Farbe mit Ihrem jüngeren Bruder.«
»Mit meinem Sohn.« Warum klang meine Stimme so atemlos? »Er ist mein Sohn. Ich bin Mrs Fergus Calhoun«, sagte ich, während seine Blicke mein Gesicht zu verschlingen schienen.
»Ah! The Towers.« Er blickte an mir vorbei zu der Stelle, an der man die Spitzen und Türmchen unseres Sommerhauses auf der noch höheren Klippe sehen konnte. »Ich habe bereits Ihr Haus bewundert, Mrs Calhoun.«
Bevor ich antworten konnte, streckte Ethan lachend die Arme aus, und der Mann hob ihn auf. Ich konnte ihn nur anstarren, wie er dastand, seinen Rücken dem Wind zugewandt, und mein Kind mühelos festhielt.
»Ein hübscher Junge.«
»Und ein energiegeladener Junge. Ich dachte, ich nehme ihn auf einen Spaziergang mit, um seiner Nanny eine Ruhepause zu verschaffen. Mit meinen beiden anderen Kindern zusammengenommen hat sie weniger Mühe als mit Klein-Ethan.«
»Sie haben noch mehr Kinder?«
»Ja. Ein Mädchen, ein Jahr älter als Ethan, und ein Baby, noch nicht ganz ein Jahr. Wir sind erst gestern für die Sommersaison eingetroffen. Wohnen Sie auf der Insel?«
»Vorübergehend. Würden Sie für mich Modell stehen, Mrs Calhoun?«
Ich errötete, doch unter der Verlegenheit verbarg sich eine tiefe und träumerische Freude. Allerdings war ich mir bewusst, wie unschicklich es war, und ich kannte
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