Die halbe Sonne
drückt er die Tür auf.
II
Vor dem Unfall
Der Vater sitzt auf einem Hocker in der Badewanne. Sein Rücken ist gekrümmt, die Hände bedecken das Geschlecht. Der Sohn gleitet mit dem Badeschwamm über die Schultern, das Rückgrat hinab – sieht Narben und Leberflecken im Seifenschaum verschwinden. Die Schulterblätter wirken so schutzlos. Aus den Achselhöhlen lugen abstehende Haare. Sie glänzen grau, hier und da weiß. Als er den Rücken abspült, fühlt sich die Haut glatt an. Denkt: Zerbrechlicher Papa. Dann: Jetzt bist du ganz neu.
Weitfortistan
Es ist halb fünf am Nachmittag. Aus dem Arbeitszimmer in der ersten Etage dringt nur das Geräusch des knarrenden Ventilators. Draußen Sonne, drinnen Stille. Der Sohn öffnet die Tür einen Spaltbreit, zieht den Vorhang auf. Die Jalousien sind heruntergelassen, die Fenster stehen offen. »Schläfst du?«
Der Vater liegt halb aufgerichtet auf dem Diwan, ein Laken auf den Beinen und sieben Kissen im Rücken. Die Lesebrille ist heruntergerutscht, die Augen sind geschlossen. In der einen Hand hält er noch einen Kugelschreiber, in der anderen zwei, drei Din A-4-Blätter. Einige weitere liegen auf seinen Beinen. Ein paar hat er zerknüllt und auf den Fußboden geworfen – eckige Wolken, verworfenes Gewitter enthaltend. Auf dem Beistelltisch steht das obligatorische Glas Wasser, daneben liegen die Medikamente. Madopark , Stalevo , Furosemid , Digoxin , Exelon ... Kleine Pulvergötter ohne Gesichter, fast ohne Geschichte. Einige Tabletten sind rund, andere länglich und zweifarbig. Ihre Formen lassen einen an Weltraumreisen und Pop-Art denken, an eine Epoche, in der es für alles noch eine Lösung gab.
Der Sohn setzt sich ans Fußende, legt die Hand auf das Laken. »Schläfst du, Papa?« Die Schnarcher sind ruhig, fast zufrieden, aber die langgezogenen Seufzer haben etwas Klagendes. Die Lider flattern. Der Sohn greift nach den Papieren im Schoß. Auf einem Blatt mit der Überschrift Spuren steht: Vater / du lehrtest mich . Die letzten beiden Wörter sind durchgestrichen und geändert worden in: sagtest, ich solle lernen. Auf einer anderen Seite wird dreimal mit immer kleineren Buchstaben und in immer größeren Abständen derselbe Satz wiederholt: Und ich lernte / Und ich lernte / Und ich lernte. Die Hand ist immer noch fest, die Schrift trotz der Krankheit sorgfältig. Kaum zittrige Stellen, fast keine Unsicherheit. Auch die Akzente über den griechischen Buchstaben sind präzise – weniger Abdrücke einer Vogelklaue als Schläge des Taktstocks während einer Sonate.
Die Entdeckung macht den Sohn verlegen. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit der Lebensmittelhändler des Dorfs, mit zweiundsiebzig Jahren, starb. Als es passierte, studierte sein jüngstes Kind, ein zukünftiger Vater, in Wien Medizin. Wäre er zur Beerdigung zurückgekehrt, hätte ihn die Sicherheitspolizei verhaftet. Stattdessen fuhr er nach Schweden, um in den Sommermonaten Geld zu verdienen. Er durfte beim Witwer einer bekannten Schriftstellerin ein Zimmer mieten. Nach acht Tagen als Spüler in einem Restaurant hustete er jedoch Blut, wurde in ein Sanatorium eingewiesen und blieb, als er wieder entlassen war, im Land.
Erst dreißig Jahre später zog er in die Heimat zurück. Die Jahre in Schweden fielen in die Blütezeit des schwedischen Wohlfahrtsstaates. Als er ankam, verputzte man gerade die Wände, als er das Land wieder verließ, waren die Tapeten ausgefranst, war das Parkett rissig.
Einige Jahre nach Beginn des neuen Jahrtausends schläft der Vater in dem Sommerhaus, das er wenige Kilometer außerhalb seines Geburtsdorfs erbauen ließ. Das nachmittägliche Nickerchen hat ihn bei der Arbeit am Porträt eines Menschen unterbrochen, den der Sohn nur aus Familienlegenden kennt. Und von dem Foto unten in der Küche. Dort sitzt der Patriarch auf einem Holzstuhl, bekleidet mit einem hellen Mantel, das linke Bein über das rechte Knie geschwungen. Der Schnurrbart ist grau meliert, aber getrimmt, in seiner Weste tickt eine Taschenuhr. Man schreibt die fünfziger Jahre, und es ist noch lange hin, bis sein siebtes Kind aus Schweden zurückkehren wird. In den schwarzen Augen funkelt es friedfertig, aber auch neckisch, als amüsiere er sich über etwas, was er weiß, anderen aber lieber nicht kundtun möchte. Der Großvater: eine männliche Sphinx in Halbschuhen.
Widerwillig liest der Sohn weiter. Vater / du sagtest, ich solle deine Sprache lernen ... Er wundert sich über die
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