Die halbe Sonne
Flügelschläge, erstarrt
Als das Handy klingelt, sitzt der Sohn in einem Parkcafé im Ausland. Sechs Uhr abends, der letzte Sonntag im Juni. Nach dem Gespräch steht er auf. Menschen liegen im Gras. Auf Kieswegen versuchen Jogger, sich an Hunden und Kinderwagen vorbeizuschieben, ohne Tempo einzubüßen. Enten gleiten aufmerksam im Teich umher, wassergekämmte Inspekteure, die Hände auf dem Rücken. Die Fontäne pumpt Kaskaden von Schaum in die Höhe. Für einen flüchtigen Moment bildet sich ein Flügel, dann zerstäubt das Wasser wie von Zauberhand. Das Kunststück wiederholt sich mit solch geduldiger Exaktheit, dass er sich fragt, ob der Augenblick als Endlosschleife läuft.
»Jetzt ...« Die Stimme der Mutter ist dünn wie Nähseide. »Jetzt ist es passiert.«
Telefonische Zeitansage
Wieder klingelt das Telefon. Die Sechsjährige erklärt ihrer fragenden Tante: »Opa ist gesterbt.«
Schutzengel
Zwei Nächte und eine Flugreise später betritt der Sohn die Kapelle. Der Mann vom Bestattungsunternehmen schließt hinter ihm die Tür. Allein, denkt er – dann ändert er seine Meinung.
Die Bahre ist in die Mitte des Raumes gerollt worden. Entlang der Wände stehen Stühle. Am Kopfende flackern Kerzen. Es fällt ihm schwer hinzugehen, er tut, was er kann, um den Vater nicht anzusehen. Trotzdem wird die Aufmerksamkeit dorthin gezogen. Wer hat ihm die Haare gekämmt? Gibt es noch Weiches in den Gliedern? Den Pyjama hat der Vater weiterhin an. Heißt dies, das Abgehen von Flüssigkeiten beim Versagen der Muskeln ist niemals eingetreten? Und die Ellbogen – hochgeschoben seit dem Unfall vor einem Jahr. Wie passt er mit einer solchen Spannweite in das Kühlfach?
Während der Sohn versucht, sich an die Situation zu gewöhnen, verstreicht die Zeit. Er staunt über alles, was die Welt enthalten kann. Stille, Pulsschläge, Parkettboden. Belüftungsschacht, Metallbahre, Laken, Tod. Nach einer Weile setzt er sich und versucht, ruhig und regelmäßig zu atmen, obwohl sein Herz revoltiert. Denkt: Ist ein Vater nicht ein Schutzengel? Es ist nicht vorgesehen, dass er einem von der Seite weicht. Man nehme beispielsweise Michael. Der Name bedeutet »Wer ist (wie) Gott?« Als der Sohn jünger war, hörte er, dass der Erzengel an der Erschaffung der Welt mitgewirkt hatte. Das erschien ihm selbstverständlich, dies war es, was ein Vater tat. Er war dabei, als die Welt geboren wurde.
Und nun? Der Sohn beginnt, die Ziegelsteine zu zählen, gibt aber rasch auf. Stattdessen versucht er zu erkennen, wo die Farbe der Kerzenflammen in Rot übergeht, gibt jedoch auch das wieder auf. Am Ende bleiben nur die Fragen. Wie lautet die Definition für einen Vater? Vielleicht: Er-der-schützt? Vielleicht: der Sonne entgegen? Wenn er nicht mehr schützt, ist er dann noch Vater?
Die Dinge, die der Sohn sieht, als er den Vater zum letzten Mal sieht
4 Wände, keine Fenster
2 Türen
Ziegelsteine, rot und unübersichtlich
10 Deckenlampen, angeordnet in 2 Reihen
3 Belüftungsventile
1 Luftschacht
Parkettboden, Steinplatten entlang einer Wand
12 Stühle mit Sitzflächen aus geflochtenem Bast
2 Kerzenständer, 6 Kerzen (alle angezündet)
1 Schachtel Solstickan -Streichhölzer
1 Reihe Gesangbücher + Neues Testament
1 Metallbahre
2? 3? Laken
Auf dem Laken über dem Brustkorb:
Eigentum des Beerdigungsinstituts Axelsson .
Däumelinchen Convertible
Diese Streichholzschachtel.
Als Einar Nerman 1936 den Auftrag erhielt, das Etikett für das neue Produkt der Stiftung Solstickan zu zeichnen, war die Zeit knapp. Er suchte zwischen alten Zeichnungen und fand eine, die Däumelinchen mit einer Fackel in der Hand zeigte. Sein eigener Sohn hatte Modell gestanden. Nerman verwandelte das Mädchen wieder in einen Jungen, entfernte die Fackel und zeichnete in die obere linke Ecke eine Apfelsine. Seither marschiert das Kind alleine der Sonne entgegen, deren Strahlkranz am ehesten einem Zahnrad ähnelt. Offenbar scheut es das Feuer nicht. Es ist ein Baby-Ikaros mit orangefarbenen Haarsträhnen und flatternden Kragenecken. Mit leeren Händen bewegt er sich vorwärts, indem er rückwärtsgeht.
Die Apfelsine: zugleich Ursprung und Ziel.
Die Streichholzzeit
Der Sohn will nicht vergessen, was er sieht, als er den Vater zum letzten Mal sieht. Doch als er in seinen Taschen nach etwas sucht, worauf er schreiben könnte, findet er nichts. Schließlich reißt er das Nachsatzblatt aus einem Gesangbuch heraus. Die Dinge aufzulisten geht schneller, als er
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