Die Hand die damals meine hielt - Roman
hat, bis er ihrer Mutter eines Tages nicht mehr gefiel und sie nur noch die verstümmelte Form benutzte.
»Alexandra«, wiederholt das Kind gehorsam. »Mutter will wissen, was du hier machst. Du sollst reinkommen und …«
»Geh weg!«, schreit Alexandra. »Lass mich in Ruhe!« Wütend
pflanzt sie sich mit ihrem Buch wieder auf den Baumstumpf, um weiter dem Tod und seinem sinnlosen Stolz auf den Grund zu gehen.
In ebendiesem Moment kniet keinen Kilometer entfernt Innes Kent - vierunddreißig, Kunsthändler, Journalist, Kritiker, bekennender Hedonist - vor seinem Auto im Dreck und inspiziert den Unterboden. Er hat zwar keine Ahnung, was er dort zu finden hofft, aber nachsehen muss er trotzdem. Er ist ein unverbesserlicher Optimist. Und es gibt fast nichts auf der Welt, was Innes mehr liebt als diesen Wagen, einen MG in Silber und Eisblau, der auf der Landstraße gerade schnaufend den Geist aufgegeben hat. Er steht auf. Und tut das, was er meistens tut, wenn ihn etwas f rustriert: sich eine Zigarette anzünden. Er versetzt dem Rad versuchsweise einen Fußtritt und bedauert es sogleich.
Innes ist auf dem Rückweg von Saint Ives, von einem Atelierbesuch bei einem Maler, dem er ein Gemälde hatte abkaufen wollen. Doch der Maler war betrunken, das Bild längst nicht vollendet. Der ganze Trip ist bislang ein kompletter Reinfall gewesen. Und nun auch noch diese Panne. Er tritt die Zigarette aus und stapft los, die Landstraße hinunter. Vor ihm taucht eine Ansammlung von Häusern auf, eine Hafenmauer, die sich in weitem Bogen ins Meer hinausschwingt. Dort müsste man ihm sagen können, wo die nächste Werkstatt ist, falls es denn überhaupt eine gibt, in dieser gottverlassenen Gegend.
Alexandra weiß nicht, wie nah Innes Kent ihr ist. Sie kann es nicht wissen. Sie ahnt nicht, dass er kommt, näher und näher mit jeder Sekunde, dass er in seinen handgenähten Schuhen die Distanz zwischen ihnen eleganten Schrittes überwindet. Bald, bald fängt das an, was sie ihr Leben nennen wird, aber noch ist sie in ihr Buch vertieft, in das Ringen
eines schon vor langer Zeit Verblichenen mit der Sterblichkeit.
Als Innes Kent in ihre Straße einbiegt, hebt Alexandra den Kopf. Sie legt das Buch wieder auf die Erde, aber behutsam diesmal, hebt die Arme über den Kopf und dehnt sich. Sie zwirbelt eine Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger, nimmt ein Gänseblümchen zwischen die Zehen und rupft es aus - auf ihre biegsamen Gelenke war sie schon immer stolz. Sie rupft und rupft, bis zwischen allen Zehen das gelbe Auge eines Gänseblümchens leuchtet, acht an der Zahl.
Innes bleibt neben einer dichten Hecke stehen und späht durch eine Lücke im Geäst. Ein schmuckes Landhaus mit Büschen, Rasen, Blumen und anderem Grünzeug - anscheinend wohl ein Garten. Nur wenige Schritte entfernt sitzt eine Frau unter einem Baum. Und für Frauen hat Innes schon immer eine Schwäche gehabt.
Dieses Exemplar der Gattung trägt keine Schuhe und hat das Haar mit einem gelben Tuch zurückgebunden. Er stellt sich auf die Zehenspitzen. Was für ein hinreißender Hals. Müsste er ihn beschreiben, kämen ihm Wörter wie »statuesk« und womöglich gar »Alabaster« in den Sinn, die er nie leichtfertig in den Mund nehmen würde. Innes hat einen künstlerischen Hintergrund. Obwohl »Vordergrund« vielleicht der treffendere Begriff wäre. Die Kunst ist für Innes nichts, was im Hintergrund steht. Sie ist, was er atmet, was das Leben vorantreibt. Er sieht keinen Baum, kein Auto, keine Straße, er sieht ein potenzielles Stillleben, ein Zusammenspiel von Licht, Schatten und Farbe, eine absichtsvolle Anordnung ausgewählter Objekte.
Und Alexandra mit dem gelben Tuch und dem blauen Kleid ist für ihn eine Szene aus einem Fresko, eine vollkommene
ländliche Madonna samt schlummerndem Kinde. Er kneift erst das eine, dann das andere Auge zusammen. Wahrhaftig, eine wunderbare Komposition, die Baumkrone als Kontrapunkt zum flachen Rasen und den vertikalen Linien der Frau und ihres Halses. Das ideale Motiv für einen italienischen Meister wie Pierro della Francesca oder Andrea del Sarto. Und sie kann sogar mit den Zehen Blumen pflücken! Was für ein Geschöpf!
Während Innes noch leise lächelnd in die Betrachtung dieses Bildes versunken ist, zerspringt es plötzlich in tausend Stücke, als die Madonna mit klarer Stimme sagt: »Wissen Sie nicht, dass es sich nicht gehört, andere Leute heimlich zu beobachten?«
Er ist so verdattert, dass es ihm kurzzeitig die
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