Die Entzauberung Asiens: Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert (German Edition)
Vorbemerkung
Bei unseren Versuchen, die Stellung Europas in der Welt der Gegenwart zu bestimmen, ist keine frühere Epoche lehrreicher als das 18. Jahrhundert. Selbstverständlich war die Haltung europäischer Intellektueller des Aufklärungszeitalters zu anderen Zivilisationen «ethnozentrisch». Es ist leicht, dies in einem Fall nach dem anderen entlarvend nachzuweisen – zumal in einer Zeit, wo ein globales Bewußtsein, multikulturelle Empathie oder ein gelebtes Weltethos mit nichts als einem kleinen Gesinnungsruck wohlfeil erreichbar zu sein scheinen. Wenn wir alle Weltbürger sind, fallen die Mühen derjenigen, die es vor zwei Jahrhunderten – ohne die Wohltaten von TV-Reportagen, Ferntourismus und Internet – sein wollten, kaum ins Gewicht. So scheint es. Aber eine solche Gegenwartsarroganz ist anachronistisch. Sie verfehlt genau das, was sie an den Aufklärern zu vermissen meint: ein Verständnis für den Eigensinn «fremder» Epochen und Kulturen. Denn das 18. Jahrhundert ist uns in mancher Hinsicht fremd. Zwischen ihm und uns liegt kein stetiger Fortschritt im angemessenen Begreifen oder Repräsentieren außereuropäischer Zivilisationen, sondern eine lange Phase der Verdunkelung des nichtokzidentalen Rests der Welt. Man kann sie kurz durch die herrschenden «Ismen» kennzeichnen: Europazentrismus, Nationalismus, Rassismus, Imperialismus; Edward Said hat vor zwanzig Jahren hinzugefügt: Orientalismus. Diese Tendenzen und Haltungen entstanden während der so vieles entscheidenden «Sattelzeit» um 1800; es ist sicher vorschnell zu behaupten, daß sie schon ganz überwunden wären.
Das Studium und die intellektuelle «Erfassung» – den Begriff borge ich bei Ernst Schulins bedeutendem Buch Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und Ranke – außereuropäischer Zivilisationen war für Gelehrte und Gebildete des 18. Jahrhunderts mehr als Mummenschanz und eitle Selbstbespiegelung. Die sogenannten Wilden Amerikas und der Südsee und die Barbaren und Zivilisierten Asiens wurden besucht, beschrieben und kommentiert, weil die «Wissenschaft vom Menschen», die den Aufklärern in Frankreich, Schottland, England, Deutschland und Italien vorschwebte, über Europa hinausdrängte. Asien war keine exotische Zutat, sondern ein selbstverständliches und zentrales Feld von Welterfahrung. Diese universale und vergleichende science of man oder science de l’homme, die von einem breiten Publikumsinteresse an allem Asiatischen begleitet war, erreichte ihren Höhepunkt während der letzten vier Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts. Kurz vor der Jahrhundertwende trat dann das Studium östlicher Sprachen, Literaturen und Philosophien in ein Stadium unerhörter Professionalität ein. Die «orientalische Renaissance», wie der französische Kulturhistoriker Raymond Schwab sie genannt hat, wurde indessen niemals zur prägenden Bildungsmacht. Persisch, Sanskrit oder Chinesisch vermochten die zu derselben Zeit humanistisch erneuerte Herrschaft des klassischen Altertums und seiner Sprachen über das Bewußtsein des 19. Jahrhunderts nicht zu brechen. Aus der orientalischen Renaissance entstanden die orientalistischen Disziplinen. Da die Beschäftigung mit Asien nun aber philologischen Spezialisten überlassen war, konnte sich die intellektuelle Öffentlichkeit davon entlasten. Die kosmopolitische Wissenschaft vom Menschen wich einer Vielzahl von Einzelfächern, deren gemeinsamer Gravitationspunkt das moderne Europa war. Dabei ist es bis in die jüngste Vergangenheit geblieben.
Die Entzauberung Asiens im 18. Jahrhundert war – wie die der Welt überhaupt – ein doppelsinniger Prozeß von widersprüchlicher Wertigkeit. Auf der einen Seite bedeutet Entzauberung einen Verlust von Sinnschätzen vormoderner Vielfalt, eine Niederlage des Ästhetischen und einen Sieg der Fähigkeit, «die anschaulichen Begriffe zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen» (Friedrich Nietzsche). Die geordnete Welt wird verfügbar. Romantische und neoromantische, oder sagen wir: postmoderne, Sensibilitäten haben stets dagegen aufbegehrt. Die Wiederverzauberung Asiens, vor allem eines uraltmythischen Indien, ließ denn auch nach 1800 nicht auf sich warten. Wem heute «das Fremde» gar nicht fremd, bunt und exotisch genug sein kann, der pflegt solche distanzierenden Bedürfnisse: bis hin zu «New Age»-Phantasien von tiefster tibetischer Weisheit, die mit dem wirklichen Asien wenig zu tun haben. Auf der anderen
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