Die Hassliste: Roman (German Edition)
Morgen. Es war der Morgen des Tages, an dem ich es hinkriegen sollte, endlich wieder in den Alltag zurückzukehren. Aber Mütter bleiben eben gern bei ihren alten Gewohnheiten: Wenn nach dreimal Weckerklingeln nichts passiert, wird geschrien und gegen die Tür gehämmert, egal, was für eine Art von Morgen es ist.
Allerdings schrie Mom nicht einfach so, in ihrer Stimme lag auch dieses ängstliche Zittern, das sie in letzter Zeit so oft gehabt hatte. Man hörte ihr an, dass sie unsicher war, ob ich bloß herumzickte oder ob sie besser schnell den Notarzt rufen sollte. »Valerie!«, bettelte sie, »du musst jetzt aufstehen! Es ist ein großes Entgegenkommen von der Schule, dass du wieder hindarfst. Mach dir doch nicht gleich am ersten Tag alles kaputt.«
Als ob ich mich darauf freuen würde, zurück in die Schule zu können. Wieder durch diese Gänge zu laufen, in denen es von Gespenstern nur so wimmelte. Die Cafeteria zu betreten, wo im Mai die Welt, die ich kannte, in Schutt und Asche aufgegangen war. Als ob ich seithernicht jede Nacht Albträume von diesem Ort gehabt hätte, als ob ich nicht jedes Mal verschwitzt und weinend aufgewacht wäre, voller Erleichterung, in meinem Zimmer zu sein, wo ich mich geborgen und sicher fühlte.
In der Schule wussten sie nicht, ob sie mich als Heldin oder als Verbrecherin sehen sollten, und das konnte ich ihnen nicht einmal vorwerfen. Ich wusste es ja selbst kaum. War ich der Bösewicht, der den Plan ausgeheckt hatte, die halbe Schule abzuknallen, oder die Heldin, die sich selbstlos geopfert und das Morden beendet hatte? Manchmal fand ich, dass beides zutraf. Dann wieder schien weder das eine noch das andere zu stimmen. Alles war so unendlich kompliziert.
Allerdings hatte die Schulbehörde am Anfang des Sommers versucht, mir zu Ehren so was wie eine Feier abzuhalten. Das fand ich total verrückt. Ich hatte schließlich nie vorgehabt, eine Heldin zu sein. Ich hatte keine Sekunde lang nachgedacht, als ich mich zwischen Nick und Jessica warf. Garantiert habe ich nicht überlegt: »Das hier ist eine super Gelegenheit, um ausgerechnet das Mädchen zu retten, das mich so oft ausgelacht hat und mich Todesschwester nennt. Bevor sie stirbt, krieg ich doch besser den Schuss ab.« Natürlich gilt das, was ich getan habe, normalerweise als eine heldenhafte Tat, aber in meinem Fall … na ja, da war man sich eben doch nicht so sicher.
Ich habe mich geweigert, an diesem Festakt teilzunehmen. Mom gegenüber habe ich behauptet, mein Bein täte mir zu sehr weh und ich bräuchte meinen Schlaf. Außerdem wäre das Ganze sowieso eine total blöde Idee. Es sei mal wieder typisch für diese Schule, sich was derart Beknacktesauszudenken, habe ich ihr gesagt. Bei so einem Schwachsinn würde ich nicht für Geld mitmachen.
Aber in Wirklichkeit hatte ich einfach nur Angst. Ich fürchtete mich davor, all diesen Leuten gegenüberzutreten. Vielleicht glaubten sie ja, was über mich in der Zeitung gestanden hatte und was sie im Fernsehen gesehen hatten: dass ich eine Mörderin wäre. Ich hatte Angst, in ihren Augen zu lesen, was sie womöglich dachten, auch wenn sie es nicht laut aussprachen:
Du hättest dich auch besser umgebracht, genau wie er
. Aber noch schlimmer wäre es für mich, wenn sie mich als mutig und opferbereit hinstellen würden. Dann würde ich mich noch elender fühlen als sowieso schon, denn schließlich war es mein Freund, der all diese Leute umgebracht hatte, und anscheinend hatte er das Gefühl gehabt, dass ich ihren Tod genauso wollte wie er. Mal ganz davon abgesehen, dass ich außerdem auch noch die unendlich blöde Person war, die nicht kapiert hatte, dass der Typ, in den sie verliebt war, ein Blutbad in der Schule anrichten wollte – obwohl er ihr das im Grunde so ziemlich jeden Tag gesagt hatte.
Aber jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte, um Mom zu erklären, was ich wirklich dachte, kam nichts anderes heraus als:
Das ist Schwachsinn. Da würd ich nicht für Geld mitmachen.
Anscheinend bleiben nicht nur Mütter gern bei ihren alten Gewohnheiten.
Das Ganze endete damit, dass Mr Angerson, der Direktor unserer Schule, am Abend des Festakts zu uns nach Hause kam. Er saß am Küchentisch und redete mit meiner Mutter über … na ja, keine Ahnung, über was. Gott, das Schicksal, traumatische Erfahrungen, irgendwas in der Art. Garantiert hat er darauf gewartet, dass ichmit einem Lächeln im Gesicht aus meinem Zimmer komme und ihm erzähle, wie stolz ich auf meine Schule bin
Weitere Kostenlose Bücher