Die Hassliste: Roman (German Edition)
schniefte ich und wischte mir wieder die Augen. »Na gut. Egal. Ich muss jetzt los.«
»Du wirst das großartig hinkriegen.«
»Hoffentlich.«
»Ich weiß es. Und vergiss nicht, was wir besprochen haben: Du kannst am Halbjahresende immer noch wechseln, falls es nicht klappt. Wie viele Tage sind das, fünfundsiebzig oder so?«
»Dreiundachtzig«, antwortete ich.
»Siehst du? Das machst du mit links. Hast es schon in der Tasche. Ruf mich nachher an.«
»Mach ich.«
Ich legte auf und nahm meinen Rucksack. Bewegte mich auf die Zimmertür zu und blieb wieder stehen. Mir fehlte etwas. Ich griff unter die oberste Schublade meiner Kommode und tastete herum, bis ich gefunden hatte, was ich suchte – ich hatte es unten in den Rahmen der Schublade gesteckt, damit es vor Moms forschenden Blicken sicher war. Ich zog es heraus und betrachtete es, wahrscheinlich zum millionsten Mal.
Ein Foto von Nick und mir am Blue Lake – es war am letzten Schultag unseres zweiten Oberstufenjahrs gemacht worden. Nick hielt ein Bier in der Hand und ichlachte dermaßen laut, dass man meine Mandeln sehen konnte. Wir hockten auf einem riesigen Felsblock neben dem See. Ich glaube, Mason hatte das Foto gemacht. Nächtelang habe ich wach gelegen und mir den Kopf darüber zerbrochen, was ich denn da wohl so wahnsinnig komisch gefunden hatte, aber ich erinnerte mich einfach nicht mehr dran.
Wir sahen so glücklich aus. Und das waren wir auch gewesen. Egal, was in den E-Mails stand und auf der Hassliste oder in dem, was wir über Selbstmord geschrieben hatten. Wir waren glücklich gewesen.
Ich berührte Nicks eingefrorenes Lächeln mit dem Finger. Ich konnte seine Stimme noch laut und deutlich hören. Ich hörte, wie er mich fragte, ob ich mit ihm zusammen sein wollte. Ganz ernsthaft hatte er geklungen, auf seine typische Art – dreist und fast wütend, zugleich aber auch schüchtern und romantisch.
»Val«, hatte er gesagt, war vom Fels gerutscht und hatte sich nach unten zu seiner Bierflasche gebückt. Mit der anderen Hand griff er nach einem flachen Kiesel, machte ein paar Schritte nach vorn und ließ ihn über den See springen. Der Stein hüpfte ein, zwei, drei Mal in die Luft, dann tauchte er ins Wasser und ging unter. Stacey lachte von irgendwoher im Wald, ganz in der Nähe. Gleich darauf lachte Duce auch. Es war kurz vor dem Dunkelwerden und irgendwo links von mir begann ein Frosch zu quaken. »Hast du dir schon mal überlegt, das alles hier hinter dir zu lassen?«
Ich zog die Fersen hoch auf den Fels und schlang die Arme um meine Knie. Ich musste an den Streit denken, den Mom und Dad am Vorabend gehabt hatten. An dieStimme meiner Mutter, die voller Gift gewesen war. An meinen Vater, der gegen Mitternacht das Haus verlassen und die Tür leise hinter sich zugezogen hatte. »Du meinst abhauen? Klar.«
Nick schwieg lange. Er nahm noch einen Stein und schleuderte ihn über die Seeoberfläche. Der Stein hüpfte zweimal hoch, bevor er versank.
»Ja«, sagte er. »Oder, weißt du, einfach so von einer Klippe runterfahren ins Nichts, ohne sich noch mal umzudrehen.«
Ich blickte nachdenklich in die untergehende Sonne. »Na ja, schon«, sagte ich. »Macht doch jeder. Wie in dem Film
Thelma und Louise
, oder?«
Er drehte sich um und lachte ein bisschen, dann kippte er den letzten Schluck Bier hinunter und warf die Flasche auf den Boden. »Den hab ich nie gesehn«, sagte er und fügte hinzu: »Weißt du noch, wie wir letztes Jahr in Englisch
Romeo und Julia
gelesen haben?«
»Klar.«
Er beugte sich zu mir. »Meinst du, wir könnten sein wie die beiden?«
Ich zog die Nase kraus. »Keine Ahnung. Ich denk schon.«
Er wandte sich wieder um und blickte hinaus auf den See. »Ja, das könnten wir. Das könnten wir wirklich. Wir denken gleich.«
Ich stand auf und klopfte mir die Rückseite meiner Hose ab. »Fragst du mich, ob ich mit dir zusammen sein will?«
Er drehte sich um, stolperte auf mich zu und packte mich fest um die Taille. Dann hob er mich hoch, bis meineFüße ein Stück über dem Boden schwebten – und ich konnte nicht anders, ich quiekte laut auf und begann zu kichern. Er küsste mich und mein Körper, so dicht an seinem, war plötzlich wie elektrisch geladen, da war ein Kribbeln, das mir bis in die Zehen reichte. Es kam mir vor, als hätte ich seit Ewigkeiten auf diesen Augenblick gewartet. »Und wenn ich es täte, würdest du dann Nein sagen?«, fragte er.
»Nein, echt nicht, Romeo«, antwortete ich und küsste ihn
Weitere Kostenlose Bücher