Die Hassliste: Roman (German Edition)
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»Dann tu ich das wohl, Julia«, sagte er – und ich schwöre, als ich in diesem Moment sein Gesicht auf dem Foto berührte, konnte ich es wieder hören. Ich spürte, wie er bei mir war. Obwohl er in den Augen der Welt im Mai zu einem Monster geworden war, war er für mich immer noch der Junge, der mich hochgehoben, mich geküsst und mich Julia genannt hatte.
Ich steckte das Foto in die hintere Tasche meiner Jeans. »Dreiundachtzig Tage und der Countdown läuft«, sagte ich laut, atmete tief ein und machte mich auf den Weg nach unten.
2. Mai 2008
6:32 Uhr
»Dann also bis später in der Cafeteria, ja?«
Mein Handy klingelte und ich schnappte
es mir, bevor Mom oder Frankie – oder noch schlimmer, Dad – es hören konnten. Es war frühmorgens, draußen dämmerte es erst. Das Wachwerden fiel schwer an einem Morgen wie diesem. Es war nicht mehr lang hin bis zu den Sommerferien. Sommerferien, das bedeutete drei Monate ausschlafen zu können und meine Ruhe zu haben vor der Schule. Ich hasste es zwar nicht unbedingt, zur Schule zu gehen, aber im Bus hackte Christy Bruter dauernd auf mir herum, in Physik stand ich auf Fünf, weil ich vergessen hatte, mich auf einen Test vorzubereiten, und die Abschlussprüfungen würden dieses Jahr höllisch schwer werden.
Nick war in der letzten Zeit ziemlich still gewesen. In der Schule hatte er sich in den vergangenen zwei Tagen nicht blicken lassen, stattdessen hatte er mir andauernd gesimst und nach den »Wichsern aus dem Biokurs« oder den »fetten Schlampen in Sport« gefragt oder nach »McNeal, dieser Pestbeule«.
Den letzten Monat über hatte er dauernd nur mit einem Typen namens Jeremy rumgehangen und es kam mir so vor, als würde er jeden Tag mehr von mir wegdriften. Ich hatte Angst, er könnte mit mir Schluss machen, darum spielte ich mit und tat so, als wäre es nicht weiter schlimm, dass wir uns kaum noch sahen. Ich wollte vermeiden, ihm Druck zu machen – er rastete in letzter Zeit ziemlich oft aus und ich hatte Angst, wir könnten uns streiten. Darum hatte ich ihn auch nicht danach gefragt, was er in diesen Tagen trieb, sondern hatte nur geantwortet, dass man
diese Wichser aus Bio in Formalin einlegen
sollte und dass
ich diese Schlampen HASSE
.
McNeal
, schrieb ich,
kann echt froh sein, dass ich keine Knarre hab
. Besonders der letzte Satz hat mir später beinah das Genick gebrochen. Alle diese Sätze. Aber der letzte ganz besonders … Eine Weile lang hab ich jedes Mal kotzen müssen, wenn ich an diesen Satz gedacht habe. Und er hat mir ein Dreistundengespräch mit Detective Panzella eingebracht. Außerdem hat er dafür gesorgt, dass mich mein Vater nun anguckt, als wäre ich tief drinnen ein Monster.
Jeremy war älter als wir – einundzwanzig oder so – und war früher auch auf unserer Schule gewesen. Er studierte nicht und ging auch nicht arbeiten. Meinem Eindruck nach tat Jeremy überhaupt nichts anderes, als seine Freundin zu verprügeln, den ganzen Tag abzuhängen und sich Joints und die Cartoons im Fernsehen reinzuziehen. Zumindest bis er Nick kennenlernte. Dann guckte er keine Cartoons mehr, rauchte seine Joints mit Nick zusammen und verprügelte seine Freundin nur noch an den Abenden, an denen er nicht bei Nick in der Garage war und Schlagzeug spielte – da war er dann nämlich einfach zubekifft, um sich an ihre Existenz zu erinnern. Ich war nur selten dabei gewesen, doch bei diesen Gelegenheiten war mir Nick ganz anders vorgekommen als sonst, ich erkannte ihn nicht wieder.
Lange habe ich geglaubt, ich hätte Nick nie wirklich kennengelernt. Vielleicht war der Nick, den ich sah, wenn wir in seinem Kellerzimmer zusammen vorm Fernseher hockten oder uns im Schwimmbad gegenseitig laut lachend unter Wasser drückten, gar nicht der wahre Nick gewesen. Vielleicht war der Nick, der in Gegenwart von Jeremy zum Vorschein kam, der wahre Nick gewesen – ein fieser Typ mit kalten Augen.
Ich hatte von Frauen gehört, die total blind waren und nicht wahrgenommen hatten, dass ihre Männer in Wirklichkeit perverse Monster waren, aber ich war mir ganz sicher, nicht zu ihnen zu gehören. Wenn Jeremy nicht da war … wenn nur ich und Nick zusammen waren und ich in seine Augen schaute … dann wusste ich ganz genau, was ich sah. Nick war in Ordnung, er war ein guter Kerl. Zugegeben, sein Humor war manchmal ganz schön heftig – aber das war bei uns allen so und wir haben es auf gar keinen Fall ernst gemeint. Darum kommt mir immer
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