Die Heilanstalt (German Edition)
Emotionen aufgeladene Seele ein Festbankett. Sie waren beinah blind vor Verlangen und sprachen so offen von ihrem wahren Wesen, wie ich es in den Wochen zuvor nie erlebt habe. Während ich das Gespräch belauschte, verstand ich zum ersten Mal, was diese Kreaturen sind und was sie wollen. Dieser Anzugträger versuchte so sehnsüchtig, dich in sein sogenanntes Reich zu locken, dass er mehr davon preisgab, als ich mir je erhofft hatte. Mir wurde klar, dass sie die Erinnerungen der Menschen aus dem Gedächtnis lösen und auf einer höheren Ebene des Geistes verinnerlichen. Ihr Reich ist ein überirdischer Verdauungsapparat.«
»Das habe ich mir auch schon gedacht«, warf Janick ein.
»Wir Nomaden wissen das ebenfalls schon lange«, bemerkte Judith.
»Mag sein«, fuhr Thomas fort. »Aber die entscheidende Einsicht ist eine andere. Weißt du noch, was die Kreatur ganz zu Anfang zu dir gesagt hat, Brüderchen?«
Janick zog die Brauen zusammen. »Das Wesen sagte, wir seien uns schon begegnet. Anscheinend hat es mich damals hinter den Fässern bemerkt, als wir uns zum Außentor geschlichen haben.«
Thomas schien nicht ganz zufrieden mit Janicks Antwort. »Es sagte: ›Vor vielen Jahren haben unsere Blicke sich getroffen.‹ Ist das nicht seltsam? Dieser Anzugträger sah ganz anders aus als der, den wir damals vor dem Tor beobachtet haben; offenbar waren es zwei unterschiedliche Individuen. Trotzdem sagte er, eure Blicke hätten sich getroffen, als wäre es dieselbe Kreatur.«
Janick verstand nicht ganz, auch Judith machte ein verwirrtes Gesicht.
»Ist es denn nicht offensichtlich?« Thomas lachte und hob wie ein Heiliger die Arme. »Das Reich, von dem das Wesen andauernd gesprochen hat, ist der Magen ein und desselben Wesens! In all den Jahren haben wir geglaubt, wir stünden einer Armee von Ungeheuern gegenüber. Dabei sind sie in Wahrheit eins! Verschiedene Materialisationen desselben Geistes! Das Wesen, mit dem wir es zu tun haben, ist in der Lage, zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten eine körperliche Gestalt anzunehmen.«
Janick und Judith machten große Augen und formten den Mund zu einem erstaunten O.
»Deshalb haben sie alle vor Schmerz geschrien, als nur eines von ihnen von dem Lichtstrahl getroffen wurde«, sagte Janick.
»Deshalb sind ihre Leiber gleichermaßen erblasst«, fügte Judith hinzu.
Thomas nickte. »Und aus diesem Grund hat sich der Himmel kurzzeitig gelichtet. Denn die dunkle Wolkendecke, die seit Jahrzehnten die Sonne fernhält, ist ebenfalls eine Materialisation des Wesens, das sich in unserer Welt eingenistet hat.«
Thomas lächelte zufrieden, als er den entscheidenden Gedanken in ihren begeisterten Gesichtern las: Wenn wir eine dieser Bestien töten, dann töten wir sie alle .
»Und mit diesem Schmuckstück dort drüben werden wir eines von ihnen zur Strecke bringen«, versicherte Thomas, als hätten sie den Gedanken laut ausgesprochen, und deutete auf das teleskopartige Sichtgerät.
»Aber die Lichtkanone ist nicht stark genug«, wandte Judith ein. »Sie konnte der Kreatur zwar Schmerz zufügen, aber sie nicht umbringen.«
Thomas schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Genau diesen Irrtum werden wir uns zunutze machen. Denn auch die Kreatur wird nicht ahnen, dass die Maschine noch weit von ihrer Höchstleistung entfernt war. In der Kürze der Zeit konnte ich sie nicht ganz ausreizen. Wie ein Computer benötigt sie eine Weile, um hochzufahren und ihre volle Leistung zu entfalten. Wie gesagt, bin ich davon ausgegangen, dass noch anderthalb Wochen bis zum Tag der Entscheidung bleiben würden.«
»Wie sehr kannst du ihre Leuchtkraft noch steigern?«, fragte Janick.
Thomas dachte kurz nach. »Sofern uns noch ein paar Tage bleiben, etwa um das Zehnfache.«
Janick und Judith ließen die Kinnlade herabfallen.
Thomas grinste stolz. Dann zog er eine Grimasse und sagte mit verstellter Heroenstimme: »Sie werden kommen, um uns zu bestrafen. Schon sehr bald. In einer gewaltigen Armada werden sie anrücken. Doch, verehrte Mitbürger und Mitbürgerinnen, liebe Freunde und Genossen, wir werden diese Ausgeburten zur Hölle schicken, so wahr uns Gott helfe!«
Dann warf er sich zu den beiden auf die Bank und drückte sie ungestüm an sich, woraufhin sie alle gemeinsam lachten.
»Jetzt geht und ruht euch aus«, sagte Thomas, nachdem er sie wieder losgelassen hatte. »Falls es früher als erwartet so weit ist, werde ich euch wecken und einen Platz in der ersten Reihe frei halten.«
Judith nickte
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