Die Heilanstalt (German Edition)
nennen, ist eine Illusion des menschlichen Geistes, ein Irrglaube, der mehr Schaden anrichtet als Gutes wirkt. Ist es wirklich nötig, dass ich Ihnen aufzeige, weshalb Sie noch am Leben sind? Bedarf es noch der Erklärung, wie Ihnen die Flucht aus unserer Stätte gelingen konnte? Glauben Sie denn, es sei die Hoffnung gewesen, die Ihnen den Weg bereitet hat? Denken Sie, die schönen Träume hätten Sie unversehrt bis an dieses Tor geführt?« Der Herr lachte abfällig. »Allein wir haben über Ihr Schicksal und das Ihrer Begleiterin bestimmt, Herr Baumgartner. Wir haben Ihnen zur Flucht verholfen und dafür gesorgt, dass Sie wohlbehalten die Siedlung erreichen.
Sie mögen sich fragen, wieso das alles? Aber Sie wissen es schon, nicht wahr? Denn Sie kennen unseren feinen Gaumen, unsere Vorliebe für das Herzhafte, da Sie einst heimlich lauschten, als wir es so darlegten: Die tröstliche Hoffnung, der Glaube an Schicksal und Fügung, das Vertrauen auf höhere Mächte – dies sind die süßen Zutaten des Geistes, die stets vorzüglich munden und immer wohl bekommen.«
Der Herr betrachtete schmunzelnd Janicks entsetzte Miene. »Ja, wir haben Sie ganz bewusst entkommen lassen, Herr Baumgartner, und auf dem Weg zur Siedlung still begleitet, während wir zusahen, wie die Hoffnung Ihre Seele versüßte. Die Abmachung mit den Wächtern, das Tor bei Ihrer Ankunft geschlossen zu halten, war längst getroffen, ehe Ihr guter Glaube Sie ans Ziel Ihrer langen Reise führte.«
Janick starrte ins Leere; die Worte der Kreatur kreisten wie Dornengeflechte in seinem Verstand. Er erinnerte sich an das Gefühl, von Dämonen umzingelt zu sein, die nur auf den richtigen Moment warteten, um aus der Dunkelheit hervorzukommen und über sie herzufallen.
Dieser Verfolgungswahn war erst vergangen, als er jene Fotografie in der Hütte am Bach betrachtet hatte und die Hoffnung auf ein helles Leben in ihm erwacht war. Seitdem hatte er die Welt nicht mehr so gesehen, wie sie war, sondern wie er sie sich wünschte. Janick spürte einen Kloß im Hals und wusste, dass die Kreatur zum ersten Mal die Wahrheit sagte.
Der Herr war sichtlich erfreut über Janicks gelähmten Gesichtsausdruck und zeigte beim Lächeln eine Reihe spitzer Zähne.
»Frau Kahlbach ist bereits seit einiger Zeit verstummt, und jetzt hat es wohl auch Ihnen die Sprache verschlagen. Ihre Freundin hat längst eingesehen, dass Sie der Illusion verfallen sind, die Sie Hoffnung nennen. Begreifen Sie es endlich auch?«
Janick blieb stumm und kämpfte mit den Tränen. Er hielt Judith fest im Arm, die ganz still war, als wäre ihr Geist aus dem todgeweihten Körper geflohen. Offenbar hatte sie der Lebenswille verlassen; und auch er selbst fühlte sich plötzlich schlaff und müde, ohne jeden Willen zum Widerstand.
»Bringt zu Ende, worauf ihr so lange gewartet habt«, verlangte Janick und sah die Kreatur abfällig an. Der Herr nickte höflich, woraufhin zwei Kreaturen in ihrer wahren Gestalt aus dem Hintergrund hervortraten. Janick verspürte im Angesicht des Todes keine Angst, sondern war von der tröstlichen Gewissheit erfüllt, dass er seit dem Verlassen der Siedlung zum ersten Mal in seinem Leben die richtige Richtung eingeschlagen hatte, den Weg entgegen der Strömung, von dem Thomas so oft gesprochen hatte. Janick bereute nichts und war erfüllt von Würde und Stolz, den Triebfedern des Widerstands, die auch sein Bruder in all den Jahren verspürt hatte.
Die Wesen ergriffen sie mit ihren mächtigen Klauen, warfen sie zu Boden und beugten ihre werwolfhaften Leiber über sie. Dann öffneten sie die Mäuler und begannen zu würgen, um ihren Speichel über sie zu ergießen. Bis zuletzt verblieben jene erhabenen Gefühle in Janicks Innerem und vertrieben seine Furcht. So erhobenen Hauptes zu sterben, war nicht schlimm; es fühlte sich richtig an. Judith wurde offenbar von einem ähnlichen Empfinden durchströmt, denn sie schrie nicht, sondern lag ruhig neben ihm und erwiderte Janicks Blick mit zufriedener Miene.
»Begreifen Sie nun Ihren Irrtum?«, sprach die kalte Stimme des Herrn. »Konnte ich Sie von der Sinnlosigkeit Ihrer Hoffnung überzeugen und Ihr Herz von falschen Träumen befreien?«
Janick und Judith sahen einander lächelnd an, erfüllt von Würde und mit der Gewissheit im Herzen, dass sie alles noch einmal genauso tun würden. Gemeinsam sprachen sie das Wort aus, das die Kreatur am wenigsten erwartet hatte, das sie nicht hören wollte und den Widerstand in nur einer
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