Die Heilanstalt (German Edition)
Julian begab sich zur Treppe, um Thomas nach unten zu folgen und die beiden allein zu lassen. Als er schon eine Hand aufs Geländer gelegt hatte, drehte er sich noch einmal zu Janick um.
»Dein Bruder hat mir das Veilchen verpasst, nachdem er aus der Dunkelheit zurückgekehrt ist« Er umkreiste mit dem Zeigefinger die Schwellung seines linken Auges. »Er war stinksauer, weil ich zugelassen habe, dass du ihm in die Außenwelt folgst. Du bist alles, was ihm nach dem Tod eurer Mutter geblieben ist.«
Janick öffnete erstaunt den Mund, doch Julian ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Er war schrecklich wütend. Aber er war auch sehr stolz auf dich. Er sagte, er hätte immer gewusst, dass du kein Feigling bist.«
Janick lächelte, und Tränen schimmerten in seinen Augen. Julian nickte ihm respektvoll zu und begab sich dann nach unten.
»Ich bin auch stolz auf dich«, flüsterte Judith, als sie allein waren, und küsste seine Wange.
Janick drückte ihre Hand fester und sah ihr tief in die Augen. »Das Wesen hat gelogen, als es über deinen Vater sprach.«
»Wie meinst du das?«
»Wäre dein Vater wirklich seit Wochen in ihrer Gewalt, hätten sie seinen Geist längst zu sich geholt. Aber noch gestern habe ich im Untergeschoss der Heilanstalt mit einem der Wesen gesprochen, das deinen wahren Namen nicht kannte. Das bedeutet, sie haben die Erinnerungen deines Vaters noch nicht absorbiert.«
Judith sah ihn hoffnungsvoll an. »Du glaubst, er lebt noch?«
»Ich weiß es«, sagte Janick. »Und wir werden ihn finden. Das verspreche ich dir.«
Judith sah ihn dankbar an und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Dann lehnte sie sich vertrauensvoll an Janicks Schulter und legte einen Arm um seine Brust. Es war ein Augenblick erfüllter Zweisamkeit, wie sie ihn auch in der Hütte am Bach erlebt hatten. Ein stiller Moment der Nähe und Verbundenheit, wie sie ihn noch tausendfach erleben wollten, im hellen, unverdeckten Licht der Sonne. Ihre Hoffnung war wiedergekehrt wie ein leuchtender Stern, der vorübergehend hinter den Wolken verschwunden war.
Letzte Vorbereitungen
Als Thomas wieder die Treppe hinaufkam, waren sie auf der Bank zusammen eingeschlafen.
Er stampfte mit voller Wucht auf den Boden und zeigte ihnen ein breites Grinsen, als sie ihn erschrocken ansahen.
»Ihr Turteltauben dürft euch gern in eines der samtweichen Doppelbetten kuscheln, mit denen auf dieser Luxusetage alle Wohnkabinen ausgestattet sind.«
Sie lächelten erschöpft und hielten sich gähnend eine Hand vor den Mund. Judith schien das Angebot annehmen zu wollen, doch Janick blieb noch sitzen.
»Vorher verrätst du uns, weshalb wir überhaupt noch kuscheln können, statt hinter Glas in einer konservierenden Flüssigkeit zu schweben.«
»Tja, kleiner Bruder. Wie du weißt, war ich einige Wochen in der Höhle des Löwen, und …«
»Wie hast du es überhaupt geschafft, in ihren Dienst zu treten?«, unterbrach Janick ihn.
Thomas lächelte verschmitzt. »Der Lohn des Fleißigen! Wer schnell in der ›Heilung‹ voranschreitet, sprich: Wessen Geist sich mühelos vom Körper löst, empfiehlt sich als ergebener Handlanger. Bei solchen Menschen wirkt ihr Gift besonders effektiv, sodass sie ihren Willen leicht steuern können. Auch du warst in der engeren Auswahl; der Kollege von Wallenstein hat ständig von deinem sagenhaften Heilungsfortschritt geschwärmt. Hättest du dich nicht wie durch ein Wunder aus dem Rausch befreit und einen waghalsigen Fluchtversuch unternommen, würdest du nun vermutlich als Herr Dr. Baumgartner durch die Flure der Heilanstalt schreiten.«
Janick machte ein Gesicht, als wäre ihm plötzlich speiübel, und hielt sich eine Hand vor den Mund.
»Na, immer mit der Ruhe, Kleiner!«, rief Thomas grinsend. »Schließlich hast du dich ja auf wundersame Weise von ihrem Gift gelöst. Eigentlich ist es fast unmöglich und nur mithilfe einer ultrahohen Dosis körpereigener Hormone und einer Menge Adrenalin zu schaffen. Was wohl ein solches biochemisches Gefühlsfeuerwerk in dir ausgelöst hat?«
Thomas schaute zwinkernd zu Judith, die sofort rot wurde und den Blick senkte. Auch Janick wirkte verlegen und bekam dunkle Flecken im Gesicht.
»Entschuldige bitte, dass ich dich unterbrochen habe«, sagte Janick. »Würdest du jetzt zur Ausgangsfrage zurückkehren?«
Thomas lachte. »Schon gut, Turteltäubchen. Dein Geist befand sich in einem Zustand, den diese Kreaturen nur selten beobachten. Für sie ist eine mit so positiven
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